Intonation, Reiner Janke
Für die Beurteilung der Pfeifendurchmesser hat sich die Töpfersche Normalmensur etabliert. Sie ist eine Art Zollstock und geeignet, Mensuren miteinander vergleichen zu können. Ihr liegt eine Progression des Durchmessers von 1: vierter Wurzel aus 8(etwa 1:1,682) von Oktave zu Oktave zugrunde, mit der Folge, dass der Klangcharakter eines Registers vom Bass zum Diskant so gut wie gleich bleibt. Die Durchmesser halbieren sich dabei alle 17 Halbtöne. Als Basis für die Berechnung der Durchmesser dient das C einer 2'- Prinzipalpfeife mit einem Innendurchmesser von 55 mm. Alle anderen Halbtöne können daraus mathematisch berechnet werden. Abweichungen der jeweiligen Pfeifendurchmesser von dieser Normalmensur werden in positiven bzw. negativen Halbtonschritten angegeben. Einen Zwang, alle Prinzipale diesem Verlauf folgen zu lassen, gibt es nicht. Diese Mensur ist kein Ideal an sich, sondern stellt nur einen guten Maßstab zur klanglichen Einschätzung dar. Die Entstehung der Normalmensur wurde erst durch das Aufkommen der logarithmischen Tabellen im 18. Jahrhundert möglich, mit denen es gelang, geometrische Reihen zu bilden, die eine Entkopplung von Pfeifendurchmesser und Pfeifenlänge erlaubten. In der Zeit davor wurden Mensuren oft aus der Oktavteilung der Pfeifenlängen nach mehr oder weniger aufwändigen geometrischen Verfahren konstruiert. Verglichen mit der Töpfermensur ergaben sich daraus meist Mensurverläufe, die in der Mittellage enger waren als im Bass und Diskant. Soll ein Prinzipal mehr flötig klingen und den Vokal O betonen, so wird man eine Mensur wählen, die etwa der Töpferschen Normalmensur entspricht oder sogar etwas weiter ist. Wird dagegen ein gambiger Klang gewünscht, um dem Register eine Färbung zu den Vokalen A oder E zu geben, sollte die Mensur mindestens sechs Halbtöne enger als die Töpfermensur sein. Durchmesserverlauf Des Weiteren ist der Verlauf der
Durchmessermensur wichtig. Er ist abhängig von dem
angestrebten Stil und der Aufgabe des jeweiligen Registers. Ein
romantischer Geigenprinzipal 8' hat, verglichen mit der
Töpferschen Normalmensur, einen deutlichen Anstieg der
Durchmesser zum Diskant und dabei einen gradlinigen
Mensurverlauf. Eine barocke Oktave 4' nach Gottfried Silbermann
ist dagegen im Bass und Diskant etwa zwei Halbtöne enger als
die Normalmensur, fällt aber in der Mittellage auf minus
sechs Halbtöne ab. Für den Klang entscheidender als
die Durchmessermensur ist meiner Erfahrung nach die sog.
Aufschnittmensur, d. h. die absolute Aufschnitthöhe und
deren Verlauf. Seit 27 Jahren beobachte ich, dass die
Aufschnitthöhen, die ich bei der Intonation mit dem Ohr
ermittele, bei ganz unterschiedlich gebauten Pfeifen einer
Registerfamilie sehr ähnlich sind. Bei Prinzipalen,
Gedeckten und Streichern folgt der Aufschnittverlauf für
einen gleichmäßigen Klang etwa der Progression der
Töpferschen Normalmensur. Ausgehend von dieser Mensur habe
ich mir eine Tabelle für Aufschnitthöhen erstellt,
unter Voraussetzung einer Labierung von 1/4 des Umfangs und eines
Aufschnitts von 1/4 der Labiumbreite, siehe Abbildung 2. Man kann
die auf diese Weise errechneten Aufschnitthöhen auch als
Normaufschnitt bezeichnen. Labierung Mit der Labienbreite kann man sowohl
auf die Lautstärke als auch auf die Obertonzusammensetzung
einer Pfeife Einfluss nehmen. Ein schmales Labium verstärkt
die Vokale O bzw. U und reduziert die Lautstärke und die
Obertöne. Dadurch rauscht die Pfeife weniger und klingt
dunkler und leiser. Eine breit labierte Pfeife hingegen
verstärkt die Vokale A bzw. E und klingt lauter und
obertöniger. Der Ton ist rauer, wilder und schwerer zu
intonieren. Der Winkel der Kernfase ist in der
Regel 60°. Ist der Winkel steiler, z.B. 70°, klingt die
Pfeife gambiger und der Vokal E wird stärker
ausgeprägt. Ist der Winkel flacher, z.B. 50°, so wird
der Ton flötiger und tendiert zum Vokal U. Ein Kern mit
einem steilen Winkel sollte dünner als im Normalfall sein,
da die Ansprache sonst zäh wird. Es gibt aber auch sehr
steile und dicke Kerne. Dazu gehören dann immer eine sehr
weite Kernspalte und viele Kernstiche. Zur Kernfase gehört
oft auch eine Gegenfase. Diese Abflachung der Kernkante wird
normalerweise im rechten Winkel zur Kernunterseite gehobelt, wenn
die Kerne noch als Streifen beim Pfeifenmacher sind. Eine breite
Gegenfase macht den Ton gambiger und sorgt für eine harte,
präzisere Ansprache. Eine Gegenfase mit einem kleineren
Winkel als 90° zur Kernunterseite macht die Ansprache
zäh. Bleikernen wird oft eine positive, klangbildende
Wirkung zugeschrieben. Da bei einer Labialpfeife das Material
nicht an der Klangbildung beteiligt ist , lässt sich der
wahrgenommene Klangunterschied gut mit einer geänderten
(andersartigen) Wirkung der Werkzeuge und Arbeitstechniken am
wesentlich weicheren Kernmaterial erklären. Wer die Kanten
des Kernes und Unterlabiums einmal stark vergrößert
betrachtet, kann feststellen, wie jedes Werkzeug und jeder
Handgriff spezifische Spuren an diesen Kanten hinterlassen und
damit den Klang individuell und unnachahmlich beeinflussen. Daher
ist es so gut wie unmöglich, Pfeifen genau zu kopieren,
insbesonders wenn schon viele Orgelbauer mit ihren Werkzeugen die
Oberflächenstruktur der Kernspalte verändert haben. Unter Labiumgeometrie verstehe ich die
Position und den Winkel von Ober- und Unterlabium. Bei
Prinzipalen sollte das Oberlabium ein wenig gegenüber dem
Unterlabium vorstehen. Bei einem Spitzlabium kommt die
Oberlabiumkante automatisch weiter heraus, je höher man
aufschneidet, während sich bei einem Rundlabium die Position
nicht ändert. Auch der Winkel des Unterlabiums ist in der
Regel abhängig von der Labienform. Rund angerissene
Unterlabien werden beim Labieren oft so stark gedrückt, dass
ein kleinerer Winkel als 90° zum Kern entsteht. Dadurch muss
der Kern tiefer gelegt werden, wodurch der Ton dunkler klingt und
mehr rauscht. Im Vergleich dazu haben einfach gedrückte
Unterlabien oft einen günstigeren Winkel. Beim Übergang von Holz- zu
Metallpfeifen empfiehlt es sich, die Fortsetzung in Metall drei
Halbtöne weiter zu machen, um den Klangfarbenwechsel
auszugleichen, der durch die andere Bauform des Labiumbereichs
der Holzpfeifen entsteht. Bei Übergängen von
Rohrflöten zu Spitzflöten oder Gedeckten zu offenen
Flöten lasse ich dagegen die Durchmesser meist durchlaufen.
Die Labierung der offenen Pfeifen muss nicht unbedingt enger
werden, um die Lautstärkeunterschiede zwischen gedeckter und
offener Pfeife auszugleichen. Einer schmal labierten Pfeife fehlt
oft die Schärfe und Rauheit der gedeckten Nachbarpfeifen.
Wichtiger ist das richtige Verhältnis zwischen Fußloch
und Kernpaltenweite und natürlich die Aufschnitthöhe.
Sie ist meist nur etwas niedriger als die des gedeckten
Nachbartones. Seitenbärte geben einem Ton mehr
Zeichnung und machen die Ansprache präziser.
Kastenbärte verleihen einer niedrig aufgeschnittenen Pfeife
(z.B. Quintadena oder Salizional) Stabilität und verbessern
die Ansprache. Schneckenbärte, Rollbärte und Freins
harmoniques sorgen dafür, dass eine überforderte Pfeife
einen stabilen und gepressten Ton gibt. Jede Bauform,
Größe und Position erzeugt einen anderen Klang. Als
Regel gilt für Rollbärte: Je kleiner der Durchmesser,
desto schärfer ist der Klang. Oftmals wird die Stimmeinrichtung als
wesentliches, klangbildendes Element übersehen. Eine an der
Mündung stark eingekulpte Pfeife klingt immer flötiger
und die Ansprache gluckst etwas. Eine Expression gibt dem Ton
viel mehr Zeichnung und verändert die Obertonzusammensetzung
stärker als jedes andere Intonationsmittel oder die
Durchmessermensur. Je nach Breite, Länge und Position des
Schlitzes ändert sich der Klang. Als grobe Orientierung
gilt: Je schmaler und länger, desto mehr Strich; je breiter
und kürzer, umso dunkler ist die Färbung. Bei Rohrflöten prägen
Länge und Durchmesser der Röhrchen ganz entscheidend
den Klang. Welchen Einfluss die Dimensionierung der Röhrchen
auf den Klang hat, lässt sich eigentlich nur experimentell
ermitteln. Effektiver ist es, diese Maße von bestehenden,
besonders gut gelungenen Registern abzunehmen. Sehr weite
Röhrchen schwächen den Ton, erzeugen mehr Rauschen und
sind dem Klang einer Koppelflöte ähnlich. Enge
Röhrchen ergeben als Färbung meist den typischen
Ö-Umlaut. Eine weit verbreitete Ansicht besagt: großer Raum - weite Mensur, kleiner Raum - enge Mensur. Diese Ansicht teile ich nur für Pfeifen, die tiefer sind als das C eines 2'. Pfeifen, die kleiner sind, können immer laut genug intoniert werden. Dies ist nur eine Frage der Aufschnitthöhe und des Winddrucks. Aber unterhalb der 2'-Lage nimmt die Empfindlichkeit des Gehörs zunehmend ab. In diesem Diagramm entspricht der Lautstärke von 1 phon die kleinste, gerade noch hörbare Lautstärkezunahme eines Klangs. Einem Pianissimo entspricht eine Lautstärke von ca. 40 phon (grüne Kurve), einem Piano ca. 60 phon (gelbe Kurve), einem Forte ca. 80 phon (orangene Kurve) und einem Fortissimo ca. 90 phon. Die Schmerzgrenze liegt bei ca. 130 phon. Ein 16'-Ton muss etwa sechsmal so laut klingen wie ein 2'-Ton, um als gleich laut wahrgenommen zu werden. In einem großen Raum muss die Schallleistung solch einer Pfeife nochmals gesteigert werden, da der Abstand zum Zuhörer viel größer ist als in kleinen Räumen und zudem ein größeres Luftvolumen angeregt werden muss. Hier ist es sinnvoll, eine weite Mensur zu wählen, da dadurch die Aufschnitt- und Mündungsflächen größer werden und so die Luft im Raum stärker zum Schwingen gebracht werden kann.In kleinen Räumen sollte dagegen die Mensur im Bassbereich enger gewählt werden. Weit mensurierte Pfeifen würden hier einen zu starken Grundton erzeugen, der dann dröhnt und die Mittellage verdeckt. Zudem gibt es in kleinen Räumen ein Problem mit der ungleichmäßigen Schalldruckverteilung. Das C eines Gedackt 8' kann am Spieltisch ganz schwach und dünn, an der Seitenwand im Kirchenraum aber unerträglich dick und laut erklingen. Der Grund dafür ist die lange Wellenlänge dieses Tones (5,20 m). Durch die Reflexionen der Schallwellen an den geraden Wänden entstehen Überlagerungen der Druckmaxima und -minima, die eine Verstärkung bzw. Auslöschung der Schallwellen an unterschiedlichen Standorten zur Folge haben. Hierauf mit einer weiten Mensur zu reagieren, wäre kontraproduktiv; das Problem würde dadurch nur verstärkt. Mit zunehmender Größe des Raumes verlagert sich das Problem auf tiefere Frequenzen. Bei einem 32' in einer größeren Dorfkirche tritt das gleiche Problem auf wie bei einem 8' in einer Kapelle. Eine Lösung für kleine Räume besteht darin, Kombinationstöne für die tiefsten Töne zu nutzen. Durch angepasste Durchmessermensur, Labierung und Intonation sollte versucht werden, die Quinte einer gedeckten 8'- oder 16'- Pfeife in der tiefen Lage zu forcieren, damit im Zusammenspiel mit der nächst höheren Oktave ein akustischer Kombinationston im Ohr entsteht, der dann den Grundton der 8'- oder 16'- Pfeife verstärkt. So entsteht ein quintiger Ton, dessen Grundtonverteilung gleichmäßiger ist. Es ist durchaus auch eine sinnvolle Alternative, die tiefsten sechs oder zwölf Töne akustisch zu bauen. Im 16'- und 32'- Bereich habe ich damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Für einen gut klingenden akustischen 16' oder 32' ist aber immer eine sehr weit mensurierte und dunkel intonierte Quinte nötig. Beispiel Hausorgel Hausorgeln stehen in relativ kleinen
Räumen und benötigen keine großen
Lautstärken, darum reichen 40 bis 50 mm WS aus. Sie stellen
daher einen der Extrembereiche für Mensuren dar und sind
für ein überschaubares Beispiel geeignet. Auf weite
Mensuren im Bassbereich kann aus den oben ausgeführten
Gründen verzichtet und dadurch platzsparender gebaut
werden. Konzertorgeln können in
großen und akustisch bedämpften Räumen stehen und
sind ein weiteres Extrembeispiel. Hier ist es nötig die
Durchmessermensuren im Bassbereich anzuheben, um genügend
Wucht für das Instrument zu erhalten. Auch sollte die Orgel
im 16'- und 32'-Bereich genügend Fülle zur Begleitung
des Orchesters haben. In solchen Räumen muss man sich, wegen
der üppigen Raumgröße keine Sorgen um die
gleichmäßige Schallverteilung der tiefen Frequenzen
machen. Das Geheimnis der Mensuren ist ein
Zusammenspiel vieler Parameter. Wenn ein historisches Register
besonders überzeugend und anrührend klingt, sind meiner
Erfahrung nach der Lautstärkeverlauf, die Temperierung, die
ungleichmäßigen Intonationsspuren, die eine gewisse
belebende Unvollkommenheit erzeugen, und die Windversorgung
entscheidender als allein die Durchmessermensur. Dass dem
Durchmessermensur für die Klanggestaltung überhaupt
eine so große Bedeutung zugesprochen wird, ist dadurch zu
erklären, dass die Aufschnitthöhe meist im
Verhältnis zur Labienbreite festgelegt wird. So erhöht
sich der Aufschnitt mit zunehmendem Durchmesser und erniedrigt
sich mit abnehmendem Durchmesser. Die vielen Parameter einer
Mensur bieten aber dem Intonateur bei einer neuen Orgel die
Möglichkeit, seine klangliche Intention durch die Wahl
richtiger Proportionen zu verwirklichen und so dem Instrument den
Ausdruck zu verleihen, der seiner künstlerischen Vorstellung
entspricht. Zuerst erschienen in: Die Hausorgel Heft 25/20114nund ISO Journal Heft 47 / 2015 Siehe auch: Der Umgang mit Orgeln des Neobarock „Leitlinien“ zum Umgang mit Orgeln der 1960er und 1970er Jahre |