Intonation, Reiner JankeVom Umgang mit dem klanglichen Erbe der "Neobarock-Orgeln" der Nachkriegsära
Intonieren: Handwerk oder Kunst?
Eine rein handwerkliche Betrachtungsweise hilft angesichts
solcher Fragestellungen dem Intonateur allerdings nicht zielführend
weiter. Vielmehr ist es nötig, eine eigene, neue Interpretation der
Intonation vorzunehmen. Es kann nicht darum gehen, dem Register einzig die
"evidenten" Unarten auszutreiben. Dann wäre es zwar
"unauffällig", gleichwohl aber langweilig und
klangästhetisch betrachtet tot. Es ist an mir, ihm als Intonateur eine
neue Vitalität und neuen Esprit einzuverleiben, mithin eine neue
sprechende Lebendigkeit. Die physikalischen Rahmenbedingungen, wie
Materialbeschaffenheit, Mensuren, Aufschnitthöhen, Winddruck und offener
Fuß, liegen freilich fest und sollen auch unverändert bleiben. Es
ist ein klein wenig so, als müsste ich zu einem bestimmten Thema mit
vorgegebenen, fixen Stichworten eine neue Rede erfinden. Und ein jeder kann
sich leicht vorstellen, dass der Eindruck, den eine Rede beim Zuhörer
letztlich hinterlässt, sehr stark von der Persönlichkeit des
Vortragenden abhängt; ähnlich verhält es sich ja auch beim
Literaturspiel durch einen musikalischen Interpreten.
Also fange ich an, mich in dieses Register hineinzudenken, es
in all seinen unterschiedlichen Bezügen zu verstehen. Es hat seinen
angestammten Aufstellungsort in einer sehr großen Kirche mit einer
"wolkigen" Akustik und steht relativ frei, ca. einen Meter hinter dem
Prospekt. Von seiner Mensur her ist es eigentlich völlig
überdimensioniert. Verglichen mit der extrem engen Blockflöte
4' des Brustwerks könnte der Unterschied kaum größer
ausfallen. Mit der Spitzflöte 8' sollte es sich jedoch gut mischen und
als Solostimme dennoch charakteristisch klingen. Ein Klang, der zu diesem
Register passen würde, müsste flötig, klar, präsent und
gleichwohl verhalten genug hinsichtlich der intendierten Mischfähigkeit
sein. Beim abermaligen aufmerksamen Durchspielen entdecke ich in jeder Lage
tatsächlich auch einige Töne, auf die diese Charakteristik zutrifft.
Sie dienen als wichtige Orientierung für das spätere Ausgleichen.
Doch bei der Arbeit tut sich immer wieder aufs Neue das gleiche Dilemma auf
nach der Devise: "Wasch mich, aber mach mich nicht nass!" Bei der
einen Pfeife reicht eine winzige Veränderung der Kernspaltenweite, bei der
nächsten muss die Kernfase abgehobelt werden, um die zu breit gewordene
Gegenfase zu beseitigen, die der damalige Intonateur aus lauter Verzweiflung
gegen das Kratzen mit seiner "Zauberfeile" über das
verträgliche Maß hinaus angebracht hatte Ich betrachte die Spuren an
den Kernspalten, um mir ein Bild zu machen, welche Werkzeuge und Techniken der
damalige Intonateur benutzt haben mag und welche klangliche Vorstellung er in
den frühen 1960er Jahren wohl verfolgte. Ein wichtiger Grundsatz ist
für mich bei diesem "Ausgleichen", dass nur Intonationstechniken
verwendet werden, die auch der Erbauer angewandt hat. Denn nur so kann der
originäre Klangcharakter eines Registers wirklich bewahrt werden. Dazu
zählt bei dieser Art der Intonation in erster Linie die Bearbeitung der
Kernspalte. Sie hat einen wesentlichen Einfluss auf die Klangqualität
eines jeden Tons. Aufrauungen im mikroskopischen Bereich als Ersatz von
Kernstichen sind hier von Ton zu Ton sehr unterschiedlich und nicht
reproduzierbar. Auch meine "Zauberfeile", die ich bei derart
intonierten Pfeifen gezielt einsetze, wird den Klang beeinflussen. Mit diesen
Gedanken und der Erfahrung bei der Nachintonation mit vielen anderen
Registern dieser Orgel, aus denen sich auch eine Handschrift der damaligen
Intonateure ableiten lässt, beginne ich meine Arbeit.
Bei Nachintonationen von Instrumenten der 1960er und 1970er
Jahre treffe ich, je nach Erbauer unterschiedlich ausgeprägt, immer wieder
auf die gleichen klanglichen Probleme, die in erster Linie etwas mit der
Qualität der ausgeführten Arbeit zu tun haben. Bei
Einschätzungen im Bereich des rein technischen Apparats erscheint es
vergleichsweise unkompliziert, Qualitätsmaßstäbe zu
formulieren, sei es die Prospektgestaltung, die Schwellwerksdynamik,
Kunststoffe in der Traktur oder gar Seilzug- oder Aluminiumtraktur oder etwa
schwergängige Tasten und Koppeln und eine unzureichende Windversorgung.
Hier kann ein Urteil, was als hochwertig zu gelten hat, weil es sich bereits
vielfach störungsfrei bewährt hat etc., recht eindeutig und vor allem
rasch gefällt werden. Was hingegen den klanglichen Apparat betrifft, so
wird hier häufig sehr konservativ, besser gesagt konservierend gedacht.
Dabei lag gerade hier der größte Entwicklungs- und Lernbedarf der
Orgelbaufirmen. Sich einen "ruppigen" Prinzipal mit der
fadenscheinigen Begründung "das wollte der Künstler halt
so" schönzureden, kann ich für mich nicht gelten lassen. Selbst
im väterlichen Orgelbaubetrieb groß geworden, ist mir die
Innenperspektive einer Orgelbauwerkstatt auf eine viel zu intime Weise
vertraut, als dass ich solche "Ausreden" akzeptieren könnte,
zumal hier oft auch verkannt wird, wie labil die Intonation einer Zinnpfeife
von Haus aus ist. Bei Renovierungen treffe ich regelmäßig auf
orgelbaukundige Zeitzeugen, die mir glaubhaft berichten, dass eine bestimmte
Orgel zu ihrer Erbauungszeit vor fünfzig bis sechzig Jahren doch
wesentlich ausgeglichener und insgesamt auch gravitätischer geklungen
habe. Legierungen mit einem Zinnanteil von 20 bis 70 Prozent geraten bereits
bei Zimmertemperatur in ein kritisches Spektrum, in dem das Metall zu
"kriechen" beginnt. Eingesackte und deformierte Fußspitzen
machen dies sehr häufig besonders deutlich. Daher verformt sich dann auch
die Labiumzone solcher Pfeifen bereits durch das bloße Faktum der Statik
des Aufrechtstehens. Pfeifen aus Walzzink sind davon jedoch nicht betroffen.
Dies erklärt auch, warum ältere Streicher aus Zink bei Restauratoren
einen so guten Ruf genießen. Bei den kleinen auf Ton geschnittenen
Pfeifen ist es besonders die Belastung durch die Schläge mit dem
Stimmhorn, die den Labiumbereich verändern. Eine nur geringfügig
eingeknickte kleine Pfeife ist dafür um ein mehrfaches lauter und wirkt
sich dadurch beispielsweise sehr störend in der Mixtur aus. Intelligente Weiterentwicklung statt bloßes Konservieren
Bei der Nachintonation neobarocker Instrumente geht es nicht
darum, der Orgel ein neues, durch den persönlichen Geschmack des
Intonatuers oder Auftraggebers geprägtes Klangbild zu geben, sondern das
Instrument seinem eigenen Wesen gemäß sinnvoll weiterzuentwickeln
ohne es in seiner Grundstruktur zu verändern. Oft wirken Instrumente
dieser Zeit wegen mangelnder Erfahrung des Erbauers, insbesondere bei der
Intonation, in sich nicht homogen bzw. klanglich unausgereift. Zudem sahen sich
die ausführenden Firmen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten oft
ideologisch einseitigen bis extremen Auflagen seitens der Auftraggeber
ausgesetzt, und die Orgel wurde subjektiv schon deshalb als positiv bewertet,
weil sich Dispositionsplan und Klangbild plakativ von der hoch- und
spätromantischen Orgel absetzten. Nach einer verständigen, gelungenen
Renovierung sollte ein derartiges Instrument ungeachtet aller Bemühungen
um eine vorteilhafte Nachintonation in jedem Falle immer noch als ein Kind der
jeweiligen orgelbaulichen Epoche und bis zu einem gewissen Grad ebenso als ein
Werk ihres ursprünglichen Erbauers erkennbar bleiben. Es gibt nur wenige
Instrumente dieser Periode, die auch heute noch so als in sich geschlossen und
überzeugend gelten können, dass sie nur geringfügiger oder gar
keiner Korrekturen bedürfen und daher als Zeugnis ihrer Zeit zu erhalten
sind. Die Schwalbennestorgel von Marcussen & Søn im Freiburger
Münster gehört meiner Einschätzung nach an vorderster Stelle
dazu. Da sie ein sehr qualitätvolles kleines Instrument ist und zudem
Bestandteil einer vierteiligen Orgelanlage, bedarf sie auch keiner
Änderungen und Zusätze. Bei der ebenfalls vorzüglichen
Klais-Orgel im Rottweiler Münster dürfte, wie bei den meisten
Domorgeln dieser Zeit, eine Ergänzung nötig sein, um sie als
Universalinstrument zu erhalten. Für die überwiegende Mehrzahl
einschlägiger Instrumente der 1960er Jahre wird aber eine gründliche
Überarbeitung sowohl im technischen als auch im klanglichen Bereich
nötig sein, um sie in die heutige Gemeindearbeit bzw. einen
künstlerisch ambitionierten Konzertbetrieb qualitativ adäquat
einzubinden und nicht als ungeliebtes museales Erbstück tolerieren zu
müssen. Ein gewisser Widerspruch zu formalen denkmalpflegerischen
Gesichtspunkten ist dabei freilich nicht immer von vorne herein
auszuschließen. Es sollte aber bedacht werden, dass die Orgel noch
immer (wenn zunehmend leider auch immer weniger) das zentrale Handwerkszeug
auch innerhalb der zeitgenössischen christlichen Kirchenmusik ist und
keineswegs ein ästhetischer Selbstwert. Stilistische oder dispositionelle
Erweiterungen, z. B. symphonische Labial- und Zungenregister, sollten auf
zusätzlichen Laden oder Stöcken und tunlichst nicht durch den
Austausch vorhandener Register umgesetzt werden. Die Tongebung sollte sich an
der Intonationsweise des vorhandenen Pfeifenbestands orientieren, damit ein
harmonisches Ganzes entsteht. Die Grundstruktur bewahren
Manual- oder Pedalerweiterungen (z. B. von f3 auf g3) sind, bei
rein mechanischer Traktur, abzulehnen. Die Eingriffe in die Konstruktion des
Spieltischs und die Trakturführung sind so weitreichend, dass die
technische Struktur des Instruments zu stark verändert werden müsste.
Dasselbe gilt auch für Änderungen in der Anordnung der
Registerzüge. Elektrische und elektronische Bauteile sind nach einer
Lebensdauer von vierzig Jahren in der Regel verschlissen und arbeiten mit
zunehmendem Alter immer unzuverlässiger. Es bliebe daher dringend zu
empfehlen, die gesamte Elektrik, sowohl Starkstrom als auch Schwachstrom,
inklusive Kabel zu erneuern. Ausdrücklich davon ausgenommen sind die
Schleifenzugmagnete ohne deren Steuerung. Diese sind in der Regel so
verschleißarm, dass sie belassen werden können. Objektive Intonationsmängel
Für den klanglichen Bereich gibt es eine Reihe von
Kriterien, die eine relativ objektive Beurteilung entsprechender älterer
Instrumente aus den 1960er und 1970er Jahren zuverlässig gestatten:
Labilität der Zungen
Die Intonation der Zungenstimmen ist ganz besonders labil, weil
die Spannung im Zungenblatt, je nach Biegetechnik, nach einigen Jahrzehnten
signifikant nachlässt. Schon allein dadurch wird ein Zungenton leiser,
heller und reagiert empfindlicher auf Druckschwankungen. Hinzu kommt noch die
Einwirkung durch Staub und Schmutzpartikel zwischen Zungenblatt und Kehle, die
den Ton dämpfen oder ein helles Klirren erzeugen können. Bei Kehlen
mit Zinnauflage und durchgehender Belederung erzeugen Keil und Krücke im
Laufe der Jahre Dellen, die das Abrollen des Zungenblatts verändern. Aus
diesen Gründen erscheint die Intonation eines Zungenregisters Jahrzehnte
später im Vergleich nochmals stärker entstellt als die Intonation der
Labialpfeifen. Den Zungenbogen wieder in seine Originalform
zurückzuführen ist praktisch unmöglich. Auch bei noch so
geschickter Biegekunst ist es kaum möglich, exakt an der richtigen Stelle
nachzubiegen. Bei Renovierungen ist daher eine Neuintonation praktisch
zwangsläufig unumgänglich, zumal die Kehlen und Passungen der
Becherspitzen ohnehin überarbeitet werden müssen. Auch hier gilt: Man
darf nicht nur nehmen (z. B. Becherspitzen zukulpen oder Papierröllchen in
die Kehle stecken), man muss auch geben (z. B. Zungenblatt stärker
aufwerfen und aufgerissene Stimmschlitze schließen)! Meiner Erfahrung
nach gewinnen nachintonierte Neobarock-Orgeln mit Abstand den meisten Zuwachs
an plausibler klanglicher Gravität durch gut intonierte Zungen. Ausgleichen im Kirchenraum Die Rohrflöte 4' hat, inzwischen nachintoniert und ausgeglichen, die Werkstatt verlassen. Sie steht nunmehr wieder an ihrem angestammten Bestimmungsort auf der Positivlade im Hamburger "Michel". Die Intonationsarbeiten vor Ort sind schon vorangeschritten und ich spiele das Register vom neuen Zentralspieltisch aus durch, um mir einen Eindruck hinsichtlich der Klangbalance mit den anderen 4'-Flöten in der Orgel und insbesondere der Spitzflöte 8' im gleichen Werk zu verschaffen. Die Rohrflöte 4' klingt farbig und recht stark: "Schön, aber zu laut, besonders im Diskant!", ist auch die Reaktion der beiden Michaelis-Kantoren. So klettere ich mit meinem Intonierwerkzeug auf den Laufboden zwischen Prospekt und Lade und beginne die Kernspalten noch enger zu machen. Durch die extrem breite Labierung behalten die Töne weiterhin ihre Farbigkeit, aber sie klingen zusehends lieblicher im Raum und mischen sich auch besser. Am Abend nach der Chorprobe schaut einer der beiden "Kirchenmusikdirektoren" noch einmal vorbei und spielt mir "meine" Rohrflöte an. Sie hat nun einen ganz besonderen, eigenen Charme: intensiv, füllig mit hellen Obertönen, die ihr die nötige Präsenz verleihen, ohne aufdringlich zu wirken. Wir sind beide angetan. Diese extreme Bauform hätte ich bei einer neuen Orgel nie gewählt. Ach, sie können doch wunderschön klingen, wenn sie nur wollen - und wenn man sie nur lässt -, diese "verpönten" neobarocken Pfeifen.Zuerst erschienen in: organ – Journal für die Orgel 3/2011. Mit Genehmigung der SCHOTT MUSIC GmbH & Co. KG, Mainz – Germany „Leitlinien“ zum Umgang mit Orgeln der 1960er und 1970er Jahre |