Intonation, Reiner Janke

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Und sie klingen doch ...!

 
Vom Umgang mit dem klanglichen Erbe der "Neobarock-Orgeln" der Nachkriegsära


Säuberlich aufgereiht und gereinigt steht die Rohrflöte 4' aus dem Positv der Steinmeyer-Orgel von 1962 aus dem Hamburger "Michel" auf der Intonierlade. Sie verfügt über eine extrem weite Mensur, mit sehr breiten Labien à la manière de Gottfried Silbermann...
Ich spiele kurz ein paar Akkorde an. Das Register klingt schauerlich verstimmt, weil die Deckel sich infolge des Transports und des manuellen Säuberns verschoben haben; also stimme ich alle 56 Pfeifen rasch durch - der Klangeindruck beim erneuten Durchspielen ist jetzt schon deutlich angenehmer. Es klingt aber alles noch ziemlich ungleichmäßig. Einige Töne sind matt und rauchig, andere laut und kratzig.Der Ton c° weist, wie auch einige andere Töne der C-Seite, sehr viele kleine Kernstiche auf, das cs° hat - wie die meisten anderen Pfeifen - jedoch keine. Aber alle Kerne wurden mit der "Zauber­feile" einer künstlich herbeigeführten Materialalterung unterzogen, d. h. aufgeraut, und auch die Unterlabiumkanten sind gratig.
Als "Zauberfeilen" bezeichnen die Intonateure z. B. Schlüsselfeilen, verkratzte Messingbleche o. ä. die so dünn geschliffen werden, dass sie in eine enge Kernspalte passen. Weil jede Feile ihren typischen Klang erzeugt ist ihr Verlust für mache Intonateure ein ernstes Problem.

Die Aufschnitthöhen, das verrät mir meine Tabelle, sind wegen der breiten Labierung für eine neobarocke Flöte erstaunlich hoch. Im gewaltigen barocken Kirchenraum in Hamburg bot sich mir durch die große Distanz und den langen Nachhall ein deutlich gleichmäßigerer Eindruck desselben Registers. Auf meinem Zettel mit der Gesamtdisposition habe ich in genauer Absprache mit der Orgelkommission hinter jedem einzelnen Registernamen handschriftlich vermerkt, was am Ende mit der jeweiligen Stimme intonatorisch geschehen soll. "Ausgleichen" steht hinter der Rohrflöte. Und dieselbe Anmerkung steht hinter den meisten Registern. Sie besagt, dass der Klangeindruck grundsätzlich befriedigend oder gut war, aber die Intonation im Laufe der Jahrzehnte ungleichmäßig geworden ist, gewissermaßen "nachgelassen" hat und nunmehr wieder behutsam in ihren ursprünglichen Zustand zurückgeführt werden soll. Nur: Was war im Einzelfall genau jeweils der ursprüngliche, also "authentische" Zustand zur Entstehungszeit des Instruments? War vom damaligen Intonateur Hans Röttger originär eher der heute vorfindliche rauchige und matte oder aber der ebenfalls vorfindliche kratzige, lautere Klangcharakter gewollt?
 
Intonieren: Handwerk oder Kunst?

Eine rein handwerkliche Betrachtungsweise hilft angesichts solcher Fragestellungen dem Intonateur allerdings nicht zielführend weiter. Vielmehr ist es nötig, eine eigene, neue Interpretation der Intonation vorzunehmen. Es kann nicht darum gehen, dem Register einzig die "evidenten" Unarten auszutreiben. Dann wäre es zwar "unauffällig", gleichwohl aber langweilig und klangästhetisch betrachtet tot. Es ist an mir, ihm als Intonateur eine neue Vitalität und neuen Esprit einzuverleiben, mithin eine neue sprechende Lebendigkeit. Die physikalischen Rahmenbedingungen, wie Materialbeschaffenheit, Mensuren, Aufschnitthöhen, Winddruck und offener Fuß, liegen freilich fest und sollen auch unverändert bleiben. Es ist ein klein wenig so, als müsste ich zu einem bestimmten Thema mit vorgegebenen, fixen Stichworten eine neue Rede erfinden. Und ein jeder kann sich leicht vorstellen, dass der Eindruck, den eine Rede beim Zuhörer letztlich hinterlässt, sehr stark von der Persönlichkeit des Vortragenden abhängt; ähnlich verhält es sich ja auch beim Literaturspiel durch einen musikalischen Interpreten.
 

Das ewige Dilemma des Ausgleichens

Also fange ich an, mich in dieses Register hineinzudenken, es in all seinen unterschiedlichen Bezügen zu verstehen. Es hat seinen angestammten Aufstellungsort in einer sehr großen Kirche mit einer "wolkigen" Akustik und steht relativ frei, ca. einen Meter hinter dem Prospekt. Von seiner Mensur her ist es eigentlich völlig über­dimensioniert. Verglichen mit der extrem engen Blockflöte 4' des Brustwerks könnte der Unterschied kaum größer ausfallen. Mit der Spitzflöte 8' sollte es sich jedoch gut mischen und als Solostimme dennoch charakteristisch klingen. Ein Klang, der zu diesem Register passen würde, müsste flötig, klar, präsent und gleichwohl verhalten genug hinsichtlich der intendierten Mischfähigkeit sein. Beim abermaligen aufmerksamen Durchspielen entdecke ich in jeder Lage tatsächlich auch einige Töne, auf die diese Charakteristik zutrifft. Sie dienen als wichtige Orientierung für das spätere Ausgleichen. Doch bei der Arbeit tut sich immer wieder aufs Neue das gleiche Dilemma auf nach der Devise: "Wasch mich, aber mach mich nicht nass!" Bei der einen Pfeife reicht eine winzige Veränderung der Kernspaltenweite, bei der nächsten muss die Kernfase abgehobelt werden, um die zu breit gewordene Gegenfase zu beseitigen, die der damalige Intonateur aus lauter Verzweiflung gegen das Kratzen mit seiner "Zauberfeile" über das verträgliche Maß hinaus angebracht hatte Ich betrachte die Spuren an den Kernspalten, um mir ein Bild zu machen, welche Werkzeuge und Techniken der damalige Intonateur benutzt haben mag und welche klangliche Vorstellung er in den frühen 1960er Jahren wohl verfolgte. Ein wichtiger Grundsatz ist für mich bei diesem "Ausgleichen", dass nur Intonationstechniken verwendet werden, die auch der Erbauer angewandt hat. Denn nur so kann der originäre Klangcharakter eines Registers wirklich bewahrt werden. Dazu zählt bei dieser Art der Intonation in erster Linie die Bearbeitung der Kernspalte. Sie hat einen wesentlichen Einfluss auf die Klangqualität eines jeden Tons. Aufrauungen im mikroskopischen Bereich als Ersatz von Kernstichen sind hier von Ton zu Ton sehr unterschiedlich und nicht reproduzierbar. Auch meine "Zauberfeile", die ich bei derart intonierten Pfeifen gezielt einsetze, wird den Klang beeinflussen. Mit diesen Gedanken und der Erfahrung bei der Nach­intonation mit vielen anderen Registern dieser Orgel, aus denen sich auch eine Handschrift der damaligen Intonateure ableiten lässt, beginne ich meine Arbeit.
 

Eine neue, veränderte Qualität

Bei Nachintonationen von Instrumenten der 1960er und 1970er Jahre treffe ich, je nach Erbauer unterschiedlich ausgeprägt, immer wieder auf die gleichen klanglichen Probleme, die in erster Linie etwas mit der Qualität der ausgeführten Arbeit zu tun haben. Bei Einschätzungen im Bereich des rein technischen Apparats erscheint es vergleichsweise unkompliziert, Qualitätsmaßstäbe zu formulieren, sei es die Prospektgestaltung, die Schwellwerksdynamik, Kunststoffe in der Traktur oder gar Seilzug- oder Aluminiumtraktur oder etwa schwergängige Tasten und Koppeln und eine unzureichende Windversorgung. Hier kann ein Urteil, was als hochwertig zu gelten hat, weil es sich bereits vielfach störungsfrei bewährt hat etc., recht eindeutig und vor allem rasch gefällt werden. Was hingegen den klanglichen Apparat betrifft, so wird hier häufig sehr konservativ, besser gesagt konservierend gedacht. Dabei lag gerade hier der größte Entwicklungs- und Lernbedarf der Orgelbaufirmen. Sich einen "ruppigen" Prinzipal mit der fadenscheinigen Begründung "das wollte der Künstler halt so" schönzureden, kann ich für mich nicht gelten lassen. Selbst im väterlichen Orgelbaubetrieb groß geworden, ist mir die Innenperspektive einer Orgelbauwerkstatt auf eine viel zu intime Weise vertraut, als dass ich solche "Ausreden" akzeptieren könnte, zumal hier oft auch verkannt wird, wie labil die Intonation einer Zinnpfeife von Haus aus ist. Bei Renovierungen treffe ich regelmäßig auf orgelbaukundige Zeitzeugen, die mir glaubhaft berichten, dass eine bestimmte Orgel zu ihrer Erbauungszeit vor fünfzig bis sechzig Jahren doch wesentlich ausgeglichener und insgesamt auch gravitätischer geklungen habe. Legierungen mit einem Zinnanteil von 20 bis 70 Prozent geraten bereits bei Zimmertemperatur in ein kritisches Spektrum, in dem das Metall zu "kriechen" beginnt. Eingesackte und deformierte Fußspitzen machen dies sehr häufig besonders deutlich. Daher verformt sich dann auch die Labiumzone solcher Pfeifen bereits durch das bloße Faktum der Statik des Aufrechtstehens. Pfeifen aus Walzzink sind davon jedoch nicht betroffen. Dies erklärt auch, warum ältere Streicher aus Zink bei Restauratoren einen so guten Ruf genießen. Bei den kleinen auf Ton geschnittenen Pfeifen ist es besonders die Belastung durch die Schläge mit dem Stimmhorn, die den Labiumbereich verändern. Eine nur geringfügig eingeknickte kleine Pfeife ist dafür um ein mehrfaches lauter und wirkt sich dadurch beispielsweise sehr störend in der Mixtur aus.

 
Intelligente Weiterentwicklung statt bloßes Konservieren

Bei der Nachintonation neobarocker Instrumente geht es nicht darum, der Orgel ein neues, durch den persönlichen Geschmack des Intonatuers oder Auftraggebers geprägtes Klangbild zu geben, sondern das Instrument seinem eigenen Wesen gemäß sinnvoll weiterzuentwickeln ohne es in seiner Grundstruktur zu verändern. Oft wirken Instrumente dieser Zeit wegen mangelnder Erfahrung des Erbauers, insbesondere bei der Intonation, in sich nicht homogen bzw. klanglich unausgereift. Zudem sahen sich die ausführenden Firmen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten oft ideologisch einseitigen bis extremen Auflagen seitens der Auftraggeber ausgesetzt, und die Orgel wurde subjektiv schon deshalb als positiv bewertet, weil sich Dispositionsplan und Klangbild plakativ von der hoch- und spätromantischen Orgel absetzten. Nach einer verständigen, gelungenen Renovierung sollte ein derartiges Instrument ungeachtet aller Bemühungen um eine vorteilhafte Nachintonation in jedem Falle immer noch als ein Kind der jeweiligen orgelbaulichen Epoche und bis zu einem gewissen Grad ebenso als ein Werk ihres ursprünglichen Erbauers erkennbar bleiben. Es gibt nur wenige Instrumente dieser Periode, die auch heute noch so als in sich geschlossen und überzeugend gelten können, dass sie nur geringfügiger oder gar keiner Korrekturen bedürfen und daher als Zeugnis ihrer Zeit zu erhalten sind. Die Schwalbennestorgel von Marcussen & Søn im Freiburger Münster gehört meiner Einschätzung nach an vorderster Stelle dazu. Da sie ein sehr qualitätvolles kleines Instrument ist und zudem Bestandteil einer vierteiligen Orgelanlage, bedarf sie auch keiner Änderungen und Zusätze. Bei der ebenfalls vorzüglichen Klais-Orgel im Rottweiler Münster dürfte, wie bei den meisten Domorgeln dieser Zeit, eine Ergänzung nötig sein, um sie als Universalinstrument zu erhalten. Für die überwiegende Mehrzahl einschlägiger Instrumente der 1960er Jahre wird aber eine gründliche Überarbeitung sowohl im technischen als auch im klanglichen Bereich nötig sein, um sie in die heutige Gemeindearbeit bzw. einen künstlerisch ambitionierten Konzertbetrieb qualitativ adäquat einzubinden und nicht als ungeliebtes museales Erbstück tolerieren zu müssen. Ein gewisser Widerspruch zu formalen denkmalpflegerischen Gesichtspunkten ist dabei freilich nicht immer von vorne herein auszuschlie­ßen. Es sollte aber bedacht werden, dass die Orgel noch immer (wenn zunehmend leider auch immer weniger) das zentrale Handwerkszeug auch innerhalb der zeitgenössischen christlichen Kirchenmusik ist und keineswegs ein ästhetischer Selbstwert. Stilistische oder dispositionelle Erweiterungen, z. B. symphonische Labial- und Zungenregister, sollten auf zusätzlichen Laden oder Stöcken und tunlichst nicht durch den Austausch vorhandener Register umgesetzt werden. Die Tongebung sollte sich an der Intonationsweise des vorhandenen Pfeifenbestands orientieren, damit ein harmonisches Ganzes entsteht.

 
Die Grundstruktur bewahren

Manual- oder Pedalerweiterungen (z. B. von f3 auf g3) sind, bei rein mechanischer Traktur, abzulehnen. Die Eingriffe in die Konstruktion des Spieltischs und die Trakturführung sind so weitreichend, dass die technische Struktur des Instruments zu stark verändert werden müsste. Dasselbe gilt auch für Änderungen in der Anordnung der Registerzüge. Elektrische und elektronische Bauteile sind nach einer Lebensdauer von vierzig Jahren in der Regel verschlissen und arbeiten mit zunehmendem Alter immer unzuverlässiger. Es bliebe daher dringend zu empfehlen, die gesamte Elektrik, sowohl Starkstrom als auch Schwachstrom, inklusive Kabel zu erneuern. Ausdrücklich davon ausgenommen sind die Schleifenzugmagnete ohne deren Steuerung. Diese sind in der Regel so verschleiß­arm, dass sie belassen werden können.

 
Objektive Intonationsmängel

Für den klanglichen Bereich gibt es eine Reihe von Kriterien, die eine relativ objektive Beurteilung entsprechender älterer Instrumente aus den 1960er und 1970er Jahren zuverlässig gestatten:

  • Die Klangbalance der Teilwerke unter- und zueinander stimmt nicht.
  • Die Lautstärkebalance und Mischfähigkeit der Regis­ter innerhalb eines Teilwerks sind unbefriedigend.
  • Der Klang- und Lautstärkeverlauf innerhalb eines Registers erscheint ungleichmäßig.
  • Die Chöre innerhalb einer Mixtur klingen unausgewogen (kleine Pfeifen zu laut, Repetitionspunkte fallen stark raus).
  • Die Intonation der Prinzipal- und Flötenchöre in den unterschiedlichen Werken ist zu uncharakteristisch, weil zu ähnlich.
  • Infolge des Stimmens sind kleine Pfeifen eingeknickt oder gestaucht.
  • Große Pfeifen sind durch ihr Eigengewicht im Labiumbereich verbogen, die Fußspitzen sind durch den las­tenden Druck auf die Stockbohrung weiter geschlossen worden.
  • Stimmeinrichtungen, wie Stimmschlitze und Deckeldichtungen, sind undicht und lassen den Ton ungebührlich stark kratzen.
  • Die Pfeifengeometrie stimmt nicht; Kernspalten sind beidseitig extrem ungleich weit, der Kern sitzt schief oder ist durchgehangen oder das Oberlabium ist zum Unterlabium verdreht etc.
  • Der Arbeitspunkt (nicht zu schnelle, nicht zu langsame Ansprache) einer Pfeife ist weit vom Zentrum entfernt; viele Pfeifen neigen zum Oktavieren.
  • Aufrauungen und Kernstiche an den Kernen sind von Ton zu Ton sehr unregelmäßig.
  • Die Aufschnitthöhen innerhalb eines Registers variieren erheblich.
  • Gedeckte und offene Flöten sind so niedrig aufgeschnitten, dass sie keine Tragfähigkeit besitzen und kein flötiges Timbre erzeugen können. (Hier liegt m. E. einer der folgenreichsten Irrtümer der Orgelbewegung. Eine Flöte hatte zu allen Zeiten der Orgelbaugeschichte die Aufgabe, Fülle und Zeichnung zu erzeugen. Eine Reduktion einseitig auf Zeichnung erscheint musikalisch nicht plausibel!)
  • Die Gegenfase am Kern ist durch Feilen so breit geworden, dass der Ton nicht mehr richtig klingen kann.
  • Einzelne Pfeifen sind an der Kernspalte mit groben Werkzeugen verletzt worden und klingen daher sehr stumpf.
  • Kleine Pfeifen sind so hoch aufgeschnitten, dass sie keinen stabilen Ton geben.
  • Zungenblätter sind zu flach aufgeworfen und verdreht, reagieren stark auf Druckschwankungen, lassen sich nicht genau stimmen und rasseln.
  • Die Becherspitzen von Zungen sitzen nicht dicht in der Nuss und die Krücken lassen sich nur mit großer Kraft hoch- und herunterschlagen.
  • Becherlängen sind zu kurz und damit zu weit vom Bourdonpunkt entfernt. Die Zunge reagiert dadurch stark auf Temperaturänderungen und klingt hell und dünn.
  • Die Stimmschlitze („Intonationsschlitze“) der Becher sind sehr weit geöffnet. Dies deutet darauf hin, dass die Zunge zu leise klingt und durch mehr Helligkeit die fehlende Lautstärke bereits ausgeglichen wurde.
 
Labilität der Zungen

Die Intonation der Zungenstimmen ist ganz besonders labil, weil die Spannung im Zungenblatt, je nach Biegetechnik, nach einigen Jahrzehnten signifikant nachlässt. Schon allein dadurch wird ein Zungenton leiser, heller und reagiert empfindlicher auf Druckschwankungen. Hinzu kommt noch die Einwirkung durch Staub und Schmutzpartikel zwischen Zungenblatt und Kehle, die den Ton dämpfen oder ein helles Klirren erzeugen können. Bei Kehlen mit Zinnauflage und durchgehender Belederung erzeugen Keil und Krücke im Laufe der Jahre Dellen, die das Abrollen des Zungenblatts verändern. Aus diesen Gründen erscheint die Intonation eines Zungenregisters Jahrzehnte später im Vergleich nochmals stärker entstellt als die Intonation der Labialpfeifen. Den Zungenbogen wieder in seine Originalform zurückzuführen ist praktisch unmöglich. Auch bei noch so geschickter Biegekunst ist es kaum möglich, exakt an der richtigen Stelle nachzubiegen. Bei Renovierungen ist daher eine Neuintonation praktisch zwangsläufig unumgänglich, zumal die Kehlen und Passungen der Becherspitzen ohnehin überarbeitet werden müssen. Auch hier gilt: Man darf nicht nur nehmen (z. B. Becherspitzen zukulpen oder Papierröllchen in die Kehle stecken), man muss auch geben (z. B. Zungenblatt stärker aufwerfen und aufgerissene Stimmschlitze schließen)! Meiner Erfahrung nach gewinnen nachintonierte Neobarock-Orgeln mit Abstand den meisten Zuwachs an plausibler klanglicher Gravität durch gut intonierte Zungen.

 
Ausgleichen im Kirchenraum

Die Rohrflöte 4' hat, inzwischen nachintoniert und ausgeglichen, die Werkstatt verlassen. Sie steht nunmehr wieder an ihrem angestammten Bestimmungsort auf der Positivlade im Hamburger "Michel". Die Intonationsarbeiten vor Ort sind schon vorangeschritten und ich spiele das Register vom neuen Zentralspieltisch aus durch, um mir einen Eindruck hinsichtlich der Klangbalance mit den anderen 4'-Flöten in der Orgel und insbesondere der Spitzflöte 8' im gleichen Werk zu verschaffen. Die Rohrflöte 4' klingt farbig und recht stark: "Schön, aber zu laut, besonders im Diskant!", ist auch die Reaktion der beiden Michaelis-Kantoren.

So klettere ich mit meinem Intonierwerkzeug auf den Laufboden zwischen Prospekt und Lade und beginne die Kernspalten noch enger zu machen. Durch die extrem breite Labierung behalten die Töne weiterhin ihre Farbigkeit, aber sie klingen zusehends lieblicher im Raum und mischen sich auch besser. Am Abend nach der Chorprobe schaut einer der beiden "Kirchenmusikdirektoren" noch einmal vorbei und spielt mir "meine" Rohrflöte an. Sie hat nun einen ganz besonderen, eigenen Charme: intensiv, füllig mit hellen Obertönen, die ihr die nötige Präsenz verleihen, ohne aufdringlich zu wirken. Wir sind beide angetan. Diese extreme Bauform hätte ich bei einer neuen Orgel nie gewählt. Ach, sie können doch wunderschön klingen, wenn sie nur wollen - und wenn man sie nur lässt -, diese "verpönten" neobarocken Pfeifen.

Zuerst erschienen in: organ – Journal für die Orgel 3/2011. Mit Genehmigung der SCHOTT MUSIC GmbH & Co. KG, Mainz – Germany

 
 

„Leitlinien“ zum Umgang mit Orgeln der 1960er und 1970er Jahre

Kernspalten des Neobarock

 
 

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