Intonation, Reiner JankeDie gezielte Bearbeitung der Kernspalte hat einen entscheidenden Einfluss auf die Klangqualität einer Labialpfeife. Bei neobarock intonierten Pfeifen wurde, oft aus „ideologischen“ Motiven heraus, auf Kernstiche weitgehend verzichtet. Absolut gratfrei hergestellte Spalten erzeugen jedoch im Bereich von etwa C 2 2/3’ bis c2 2 2/3’ immer, und dies sowohl beim Einschwingen als auch beim stationären Ton, starke unschöne Nebengeräusche. Die Ursache sind unerwünschte Turbulenzen im Luftblatt, die unharmonische Eigenresonanzen des Pfeifenkörpers anregen. Bei tieferen Tönen hat die Intensität dieser Turbulenzen bis zum Erreichen der Oberlabiumkante abgenommen, so dass sie den Wohlklang nicht mehr allzu sehr stören. Bei kleinen Pfeifen entstehen mit ansteigender Tonhöhe Frequenzen, die außerhalb des durch den Menschen wahrnehmbaren Hörspektrums liegen. Damit eine Pfeife aber einen befriedigenden, d. h. musikalisch brauchbaren Ton erzeugen kann, muss der Intonateur die Kanten der Kernspalte bearbeiten. Manche Orgelbauer vertreten die Ansicht, dass ein bestimmtes Material, spezielle Mensuren oder eine möglichst „historische Arbeitsweise“ die Pfeife von sich aus „natürlich“ erklingen lassen. Doch sind wir einmal ehrlich: Was genau ist von Einzelfall zu Einzelfall an einer Orgelpfeife „natürlich“? Wie heißt das Gewächs, das natürlich gewachsene Orgelpfeifen als Frucht hervorbringt, die wir dann ernten und möglichst frisch und unverfälscht weiterverarbeiten und genießen sollten? Dies sind letztlich emotionale Reizworte, welche eine objektiv geführte Debatte um die Sinnhaftigkeit einzelner intonatorischer Maßnahmen kaum voranbringen. Wer Kernspalten unter einer sehr starken Lupe vergrößert betrachtet, wird klar erkennen können, wie empfindlich die Kanten des relativ weichen Orgelmetalls sind und wie sich jede Art der Berührung mit einem Werkzeug sogleich plastisch deformierend auf die Form auswirkt. Dies beginnt bereits bei der Pfeifenherstellung. Schon die Schärfe des Messers und die Arbeitstechnik beim Bearbeiten entscheiden über die Beschaffenheit von Unterlabium- und Kernkante. Wenn diese unregelmäßig geformt sind, klingt jeder Ton allein schon deshalb anders. Besonders auffällig ist bei Pfeifen ab der Mitte des 20. Jahrhunderts ein starker Grat im linken Bereich der Unterlabiumkante. Er entsteht beim Abrichten des Fußes mit einem rotierenden Messer auf der Drehbank. Besonders bei engen Spalten erhält der Klang aufgrund dessen ein „kühles“ Timbre. Zum Teil rührt der häufig bemängelte „harte“ Klang neobarocker Instrumente gewiss von dieser Bearbeitungsweise her. Es ist äußerst lehrreich, bearbeitete Kerne unterschiedlicher Orgelbauer unter der Lupe zu betrachten, um zu sehen, wie vielfältig die Gestaltung der Kernvorderkante sein kann. Die irrige historische Annahme der Orgelbewegung, dass barocke Pfeifen grundsätzlich ohne Kernstiche auskamen und intoniert wurden, hat dazu geführt, die Kernspalten künstlich zu altern und sie mit diversen „Zauberfeilen“ aufzurauen. Eine mikroskopische Untersuchung dieser Strukturen fördert jedoch überdeutlich zutage, dass eine sekundäre künstliche Alterung sich wie ein wildes Geröllfeld ausnimmt gegenüber den „organischen“ Alterungsspuren an den Kanten einer dreihundert Jahre alten historischen Orgelpfeife, die dagegen das Bild eines feinen Sandstrands vermitteln. Aufgeraute Kernspalten waren also ein typisches Mittel der Klanggestaltung neobarocker Orgeln und begünstigen einen unterkühlten und tendenziell spröden, leicht „kratzigen“ Orgelklang.Zuerst erschienen in: organ – Journal für die Orgel 3/2011. Mit Genehmigung der SCHOTT MUSIC GmbH & Co. KG, Mainz – Germany Vom Umgang mit dem klanglichen Erbe der "Neobarock-Orgeln" der Nachkriegsära „Leitlinien“ zum Umgang mit Orgeln der 1960er und 1970er Jahre |