Intonation, Reiner Janke
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„Leitlinien“
zum Umgang mit Orgeln der 1960er und 1970er Jahre
Bei Überlegungen, ob sich die Renovierung einer Orgel
aus dieser Periode lohnt, sollte vorab der Gesamtzustand des Instruments
sorgfältig ermittelt und berücksichtigt werden. Eine Renovierung
macht nur Sinn, wenn das Instrument danach zuverlässig, ergonomisch gut
spielbar, klangschön und wartungsfreundlich sein wird. Sollte dies alles
teurer werden als der halbe (heutige) Neupreis, ist eine Renovierung in der
Regel kaum sinnvoll.
Nachfolgend habe ich einige Fragen formuliert, die den
Umfang und die Kosten der Renovierungsarbeiten bestimmen. Ob alle
möglichen Maßnahmen auch tatsächlich durchgeführt werden,
hängt selbstverständlich auch von den finanziellen Mitteln ab, die
dem Auftraggeber zur Verfügung stehen. Es sollte aber immer bedacht
werden, dass bei zu sparsam angelegten Arbeiten, insbesondere bei der
Intonation und Windversorgung, kaum ein deutlicher Unterschied zum vorherigen
Zustand erreicht werden kann und so die Akzeptanz der Renovierungskosten durch
die Gemeinde bzw. Öffentlichkeit eher geringer ausfallen wird. Der
nächsten Generation stellt sich zudem erneut die Frage: renovieren oder
neu bauen?
Technische Anlage
-
Aufstellungsort: Erscheint eine Änderung aus akustischen Gründen
sinnvoll, weil sich die Bedürfnisse des Gebrauchs (z. B. keine Gemeinde
oder Chor auf der Orgelempore) geändert haben oder bauliche
Veränderungen ein Umsetzen der Orgel sinnvoll machen?
-
Raumakustik: Hat sich die Akustik des Raums geändert oder werden
schallabsorbierende Maßnahmen (Neuanstrich des Innenraums, textile
Sitzbeläge der Kirchenbänke, neuer versiegelter Steinfußboden
etc.) bei einer bevorstehenden Renovierung geplant?
-
Heizung: Kann die Heizungsanlage (z. B. Heißluftanlage) optimiert
werden, um schnelle, starke Verstimmungen während der Heizperiode zu
vermindern?
-
Fensterisolierung: Ist es möglich, Kirchenfenster, Dachstühle
(insbesondere bei Holzdecken) oder andere Kältezonen in der Nähe der
Orgel effektiver zu isolieren?
-
Gehäuse: Lässt sich durch zusätzlichen Einbau von Füllungen
und Türen die Wartungsfreundlichkeit und Zugänglichkeit der Orgel
optimieren? Ist es nötig, Dächer anzubringen, um insbesondere
Zungenbecher vor herabfallendem Schmutz und Staub besser zu schützen?
-
Beleuchtung: Ist das Orgelinnere ausreichend beleuchtet, damit Stimm- und
Wartungsarbeiten sicher durchgeführt werden können?
-
Notenpult: Ist das vorhandene Notenpult groß genug und sind Position
sowie Neigung optimal?
-
Geländer: Sind ausreichend Sicherheitsgeländer an den
Stimmgängen vorhanden, damit ein sicherer Zugang zu allen Orgelteilen
möglich ist?
-
Schwellwerksdynamik: Ist das Schwellwerksgehäuse dickwandig und
schalldicht genug gebaut, oder könnte das Verstärken der Wände
oder zusätzliches Abdichten der Schwelljalousien die Schwelldynamik noch
sinnvoll erhöhen?
-
Windanlage: Sind Zwickel oder andere Lederteile brüchig oder sollten sie
erneuert werden? Kann das Grund-Betriebsgeräusch durch
Schalldämmungs-Maßnahmen verbessert werden? Sind das Gebläse
und die Windkanäle ausreichend dimensioniert? Entsteht zu großer
Druckabfall beim Spielen des Tutti?
-
Elektrische Tontraktur: Laufen die elektrischen Koppeln befriedigend und
geräuscharm? Sind die Tonmagnete verschlissen oder können sie so
belassen werden? Sind die Kontakte von Tasten und Koppeln verschlissen?
Müssen neue elektrische Koppeln
gebaut werden? Reicht der Wind bei einer etwa geplanten Suboktavkoppel auch
noch aus etc.?
-
Elektrische Registertraktur: Können eventuell vorhandene pneumatische
Registerzugapparate restauriert werden oder müssen diese gegen Magnete
ausgetauscht werden? Sind die Steuerplatinen der Magnete wirklich so gut, dass
sie die nächsten vier Jahrzehnte störungsfrei überdauern, oder
sollten nicht vorzugsweise alle Platinen erneuert werden?
-
Setzer: Verfügt der Setzer über hinreichend Speicherkapazität
oder muss/sollte er erneuert werden?
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Mechanische Registertraktur: Sind die Lager und Achsen ausgeschlagen? Gibt es
Reibestellen, die durch Pendel abgefangen werden können? Gibt es
Abstoppungen für den Schleifengang innerhalb der Registertraktur und nicht
an der Schleife, so dass dies umgebaut werden muss? Fehlen Gegengewichte bei
langen vertikalen Registerstangen?
-
Koppeln: Ist die Übersetzung der Manualkoppeln korrekt, indem das
angekoppelte Manual etwas weniger Gang macht? Lassen sich die Koppeln sicher
und geräuscharm einschalten? Gibt es Reibung in den Koppeln, die beseitigt
werden kann?
-
Mechanische Traktur: Sind die Garnierungen in den Achslagern der Traktur
zerschlissen? Kann durch eine Änderung der Konstruktion die
Sensibilität verbessert werden? Gibt es zu viele Reibungsstellen im
Trakturweg? Ist eine Selbstregulierung vorhanden? Sorgen schwere Bleigewichte
auf den Tasten, dicke Wellen, Ventile und Abstrakten für ein massiges
Spielgefühl? Gibt es Kunststoff- oder Metallwinkel und Stahllitzen, die
besser gegen Holzteile ausgetauscht werden sollten? Funktioniert die
Selbstregulierung oder müsste diese noch eingebaut werden?
-
Wellenbretter: Haben die Wellenlager Spiel, sind verschlissen und klappern beim
harten Anschlagen? Ist die Torsion der langen Wellen zu groß und sorgt
für einen gummiartigen Anschlag, wodurch die Koppeln im Tutti nicht
durchziehen?
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Windlade: Sind die Kanzellen oder andere Teile gerissen, Ventilschlitze
für einen angenehmen Druckpunkt zu groß oder klein, so dass die Lade
zu Nacharbeiten ausgebaut werden muss?
-
Ventilauflagen: Sind die Spielventile mit sich auflösendem Schaumstoff und
Leder beklebt oder kann die Auflage aus Filz und Leder belassen werden?
-
Schleifendichtungen: Können die Dichtungen wie z. B. Teleskophülsen,
Schmidsche Ringe oder Lederdichtungen belassen werden oder müssen sie
gegen neue ausgetauscht werden?
-
Ventile: Sind die Ventile zu groß und massig? Verhindern sie ein
sensibles Spielgefühl?
-
Pneumatik und Lederteile: Gibt es Membranen oder Bälgchen, deren
Belederung spröde oder brüchig ist? Können die Lederteile mit
Lederöl wieder geschmeidig gemacht werden oder müssen sie
ausgetauscht werden?
Pfeifenwerk und
Intonation
-
Dispositionsänderungen: Ist es tatsächlich erforderlich, die
Disposition zu ändern (z. B.
Waldflöte 2’ aus dem Hauptwerk gegen Prinzipal 2’ im Nebenwerk tauschen),
oder könnte durch Erweiterungen und zusätzliche Koppeln ein
musikalisch ebenfalls befriedigender Zustand erreicht werden? Handelt es sich
tatsächlich um einen offensichtlichen Dispositionsfehler oder zeichnet
diese „Eigentümlichkeit“ gerade das Besondere des betreffenden
Instruments aus?
-
Winddrücke: Entsprechen die vorfindlichen Winddrücke bei etwas
Windverbrauch noch dem originalen Zustand oder sind die Federn und damit der
Druck schwächer geworden? Sind die Winddrücke der Größe
des Raums, der Position in diesem und der Aufgabe des Instruments angemessen
und haben sie sich in der Vergangenheit bewährt?
-
Tonhöhe: Ist die Stimmtonhöhe (Oktave 4’ a° 440 Hz bei 15°)
eingehalten worden?
-
Bauformen und Mensuren: Ist es tatsächlich nötig, Register mit
extremen Bauformen oder Mensuren aufzugeben, oder können sie durch eine
gezielte Umintonation weiterhin sinnvoll Verwendung finden?
-
Pfeifenanhängungen: Stehen einige lange Pfeifen (ab etwa 2 2/3’
Länge abwärts) schief und benötigen ein Oberraster?
-
Stimmeinrichtungen: Sind die Pfeifen für eine Nachintonation auch lang
genug? Müssen Subbass-Pfeifen oder andere Holzregister angelängt
werden, wenn die Aufschnitte erhöht werden? Müssen Stimmschlitze
zugelötet werden, weil die Pfeifen stärker intoniert werden?
-
Aufschnitthöhen: Können die vorhandenen Register ihre
Aufschnitthöhen im Wesentlichen behalten oder ist es sinnvoll, diese wegen
eines ausgereifteren Klangbilds höher aufzuschneiden?
-
Stimmschäden: Wie viele Pfeifen sind im Labiumbereich infolge des Stimmens
eingeknickt? Müssen Stütznähte angebracht und die
Pfeifenmündungen ausgedünnt werden?
-
Fußspitzen: Ist es nötig, die eingesackten Fußspitzen der
großen Zinnpfeifen durch gegossene Spitzen auszutauschen, oder lässt
sich der Schaden durch Kulpen beheben?
-
Zungenstimmen: Sind die Becher lang genug, um sie voller zu intonieren?
Müssen die Stimmschlitze zugelötet oder ein neuer Ton davorgesetzt
werden? Sollten die Zungenblätter ausgetauscht werden?
Sonstiges
-
Windsystemtest: Neobarocke Orgeln verfügen sehr häufig über
Windladenbälge und keine stabile Windversorgung. Da die Pfeifen in der
Regel sehr forciert intoniert sind, fällt ein Druckabfall von fünf
und mehr Millimetern Wassersäule beim vollen Spiel oft nicht auf. Nach der
Nachintonation klingen die Pfeifen oft entspannter und reagieren dadurch
sensibler auf Druckschwankungen. Auch sind die Mixturen dann sauber gestimmt.
Jetzt wird die Schwäche des Windsystems viel stärker wahrgenommen als
vor der Renovierung. Zur genauen Analyse vor den Maßnahmen sei daher der
nachfolgende Test empfohlen.
Es ist wichtig, jeden Balg einzeln zu testen. Zunächst wird der
stationäre Winddruck (ohne Windverbraucher) gemessen. Dann wird bei etwas
Windverbrauch (z. B. Prinzipal 8’ c1) gemessen. Danach werden alle
Register im jeweiligen Werk gezogen und ein großer Akkord langsam
arpeggierend, mit dem obersten Ton beginnend, angehalten. Der Akkord sollte
möglichst gleichmäßig auf C- und Cis-Seite verteilt sein. Dabei
wird beobachtet, wie stark der Druck abfällt. Zum Abschluss wird der
gleiche Akkord mit allen Registern, die zweckdienlicherweise ein Generaltutti
bilden sollen, mit allen Koppeln und Doppelpedal angehalten. Dabei werden nicht
nur die einzelnen Laden der Werke gemessen, sondern auch, wenn vorhanden, der
Vorbalg und – nach Möglichkeit – der Druck am
Gebläse.
-
Temperierung: Die Orgeln aus den 1960er Jahren sind in der Regel gleichstufig
temperiert. Ab den 1970er Jahren wurden jedoch zunehmend Instrumente vereinzelt
auch ungleichstufig nach historischen Vorbildern gestimmt. Temperaturen wie z.
B. Kirnberger II und III haben sich in der alltäglichen Praxis
für die Orgel aber als zu einseitig erwiesen. Die stark schwebenden
Quinten und die starken Wechsel in den Tonarten schränken das
Literaturspiel insgesamt doch signifikant ein. Eine Neobarock-Orgel gewinnt
wegen der vielen Obertöne jedoch meist durch eine ungleichstufige
Temperatur. Sie sollte bei großen Instrumenten gleichwohl
gemäßigt sein, um auch die Möglichkeit der Interpretation
romantischer Literatur nicht von vorne herein über Gebühr einzuengen
oder gar vollkommen auszuschließen.
Zuerst erschienen in: organ – Journal für die
Orgel 3/2011. Mit Genehmigung der SCHOTT MUSIC GmbH & Co. KG, Mainz –
Germany
Vom Umgang mit dem klanglichen Erbe der
"Neobarock-Orgeln" der Nachkriegsära
Kernspalten des Neobarock
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