Intonation, Reiner Janke

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Der Einfluss von Kernstichen auf Klang und Luftblattströmung


An der Fachhochschule Ostfriesland Emden (Dr. György Paál, Prof. Dr. Walter Garen) wurden 1997 in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer Institut für Bauphysik (Dr. Judit Angster, Prof. Dr. András Miklós) Visualisierungen, lasergestützte Strömungsmessungen (LDA) und akustische Messungen an der Luftströmung von klingenden Orgelpfeifen betrieben. Die Firma Firma Freiburger Orgelbau Hartwig Späth und der Verfasser waren daran als Kooperationspartner beteiligt.
Bei dem Forschungsvorhaben wurde der Einfluss von Kernstichen untersucht. Ausgangspunkt für das Projekt bildete ein neues Messverfahren, mit dem es möglich ist, Luftströmungen berührungslos hinsichtlich ihrer Geschwindigkeit und Richtung zu messen. Eine solche Messeinrichtung befindet sich in der Fachhochschule Emden und wird von Herrn Dr. György Paál unter der Leitung von Prof. Dr. Walter Garen eingesetzt. Neben der wissenschaftlich exakten Analyse des Luftblattes wurde dieses außerdem mit Hilfe der Schlierentechnik sichtbar gemacht. Zudem wurden die Pfeifen gleichzeitig akustisch im Fraunhofer Institut für Bauphysik durch Dr. Judit Angster und Prof. Dr. András Miklós vermessen und durch den Verfasser subjektiv beurteilt. Diese Maßnahmen wurden an ganz gewöhnlichen Orgelpfeifen durchgeführt und nicht an Modellen, wie es bislang üblich war. Nur so ist eine wissenschaftliche Aussage möglich, die in die Praxis übertragen werden kann.
Als "Orgel" diente ein Modell einer Windlade mit durchschnittlicher Kanzellenlänge von 70 cm. Die Pfeifen (4' G) wurden über ein großzügig dimensioniertes Flexrohr an die Kanzelle angeschlossen und stehend auf einem Brett mit Oberraster montiert. Die Windversorgung erfolge durch ein Gebläse mit Regulatorbalg. Ein Magnet öffnete das Schwanzventil unterhalb der Windstube am Abzugsdraht. Anspracheverhalten und stationärer Ton waren in jeder Hinsicht mit Verhältnissen in einer Orgel mittlerer Größe vergleichbar.

Visualisierung
Um das Luftblatt sichtbar zu machen, wurde eine präparierte Pfeife (Abb. 1) mit CO2  angeblasen.
Weil dieses Gas eine höhere Dichte und damit andere optische Eigenschaften hat als Luft, sinkt die Schallgeschwindigkeit und die Pfeife klingt somit tiefer. Auf die Klangfarbe und das Anspracheverhalten hatte dies aber keinen wahrnehmbaren Einfluss.

Präparierte Pfeife

Die Versuchsanordnung (Abb. 2 u. 3) ähnelte dem Prinzip eines Diaprojektors, wobei die Pfeife das „Dia" war. Als Lichtquelle diente ein gepulster Laser, der mit Lichtblitzen in der gleichen Frequenz wie der Grundton der Pfeife diese seitlich durchleuchtete und mit einem Mikrofon synchronisiert wurde. Eine Optik, in diesem Fall ein Hohlspiegel, projizierte den Bereich der Kernspalte auf eine weiße Wand.

MessanordnungMessaufbau

Für eine kontrastreiche Darstellung musste der projizierte Lichtstrahl noch von der Kante einer Klinge berührt werden. Ansonsten sähe das Bild aus wie heiße aufsteigende Luft.
Die Projektion des Luftblattes (Abb. 4 u. 5), die auf dem Kopf stand, wurde von einer Videokamera an einen PC weitergeleitet und dort in vorgegebenen Zeitabschnitten abgespeichert. Durch leichtes Verändern der Frequenz des Laserblitzes, wie beim Stroboskopprinzip des Plattentellers, entstand dabei eine flüssige Bewegung des Luftblattes.

Zeichnung VisualisierungVisualisierung Luftblatt

LDA-Untersuchung

Der zweite Teil der Untersuchungen analysierte, im Gegensatz zu der Visualisierung, bei der das Luftblatt über die gesamte Labienbreite betrachtet wurde, nur einen Ausschnitt, quasi eine hauchdünne Scheibe dieser Ansicht. Dabei wurde ein genaues Strömungsprofil erstellt, das Auskunft über die Geschwindigkeit und Richtung von diesem Teil des Luftblattes gibt. Damit die Luftströmung und auch der Klang der Pfeife unbeeinflusst blieben, wurde das Verfahren der Laser-Doppler-Anemometrie (LDA) verwendet (Abb. 6).

Zeichnung LDA

Dabei sind zwei Laserstrahlen so ausgerichtet, dass sie sich im Messbereich des Luftblattes kreuzen. Ein Photodetektor, der auf diesen Schnittpunkt ausgerichtet ist (Abb. 9), misst Richtung und Geschwindigkeit winzigster Wassertröpfchen, die der Luft durch ein in der Medizin verwendetes Gerät beigemischt sind.
Nach und nach tastet der Laser ein Raster von Messpunkten in Höhe und Tiefe ab (Abb. 7 u. 8). Abb. 8a zeigt ein aus diesen Daten erstelltes Vektordiagramm. Es gibt Auskunft über die Geschwindigkeit und Richtung des Luftblattes mit den umgebenden Stromlinien.

LDA seitlichLDA frontalMessaufbau LDA

 

LDA-Grafik

Akustische Analyse

Zur Begleitung der Strömungsanalyse wurden die untersuchten Pfeifen während der LDA-Messungen im reflexionsarmen Raum mit einem Messmikrofon digital aufgezeichnet (Abb. 10) und durch den Verfasser subjektiv beurteilt. Die Auswertung der Aufnahmen erfolgte später im Institut für Bauphysik in Stuttgart. Dort wurden dann zusätzlich Klanganalysen an Duplikaten der in Emden untersuchten Pfeifen unter optimalen akustischen Bedingungen durchgeführt.

Messmikrofon

Zur grafischen Darstellung des Pfeifentones mit allen seinen harmonischen und unharmonischen Klanganteilen wird bei diesen Untersuchungen zunächst eine Spektralanalyse durchgeführt (Abb. 11). Danach misst ein Programm den zeitlichen Verlauf der Einschwingvorgänge der ersten 10 Teiltöne und stellt sie in Form von Scheibendiagrammen dar (Abb. 12). Zum Schluss wird der Klang noch subjektiv durch einen Intonateur beschrieben.

SpektralanalyseKlanganalyse

Pfeifenintonation und -Präparation

Aus messtechnischen Gründen konnten nur Pfeifen mit maximal 200 Hz verwendet werden. Die hier benutzten Pfeifen gaben einen Ton der etwa einem G bzw. F eines 4'-Registers entspricht.
Die Intonation erfolgte in der Werkstatttradition der Firma Freiburger Orgelbau. Wichtig ist dabei anzumerken, dass die Kernspalten absolut gratfrei und glatt, nicht jedoch abgerundet waren (Abb. 13). Die Kerne hatten alle eine leichte Gegenfase, die vom Verfasser vor dem Zusammenbau nach Erfahrung eingerichtet wurde (Abb. 14).
Die später zugefügten Kernstiche wurden mit einem doppelseitig angeschliffenen Kernstecher (ähnlich einem Schwert) ausgeführt. Er hinterlässt Abdrücke, die mit denen eines Messers, auch im Unterlabium, vergleichbar sind (Abb. 15 u. 16). Die Oberlabienkanten hatten keine Fase.
Nach der Intonation wurden die Glasfenster (Objektträger für das Mikroskopieren) mit Weißleim absolut dicht eingeklebt. Eine klangliche Veränderung konnte nicht beobachtet werden. Bei der gedeckten Pfeife dienten die Glasscheiben gleichzeitig als Seitenbart.

Gedeckt Spalte    Spalte
Gedeckt Stiche    Offen Stiche

 

Beschreibung der Versuchspfeifen in Emden


Gedeckte Pfeife bei 60 mm Ws

Tonhöhe : 183 Hz, (F 4')
Legierung : 20 %
Materialdicke : 0 ,8 mm
Durchmesser innen : 50 mm
Körperlänge : 460 mm
Fußlänge : 180 mm
Labienbreite : 43 ,5 mm
Aufschnitthöhe : 19 ,7 mm
Kernspaltenweite : 0 ,6 mm
Fußlochdurchmesser : 7 ,3 mm
Kerndicke : 2 mm
Kernfase : 70 °
Gegenfase : 1 mm


Offene Pfeife bei 60 mm Ws

Tonhöhe : 200 Hz, (G 4')
Legierung : 70 %
Materialdicke : 0 ,8 mm
Durchmesser innen : 70 mm
Körperlänge : 900 mm
Fußlänge : 200 mm
Labienbreite : 55 mm
Aufschnitthöhe : 14 ,1 mm
Kernspaltenweite : 0 ,7 mm
Fußlochdurchmesser : 8 mm
Kerndicke : 4 mm
Kernfase : 60 °
Gegenfase : 0 ,5 mm

 

 

Auswertung und Deutung


Visualisierung

Unterschiede im Verhalten des Luftblattes mit und ohne Kernstiche waren bei der Visualisierung nicht sofort zu erkennen. Bei längerer Betrachtung während der Untersuchungen und auch anschließend bei der Auswertung der Videoaufnahmen entstand der Eindruck, dass sich das Luftblatt mit Kernstichen symmetrischer und weiter ausschwingend bewegte als ohne Kernstiche (Abb. 17). Es war ferner nicht so turbulent. Interessant sind auch die Unterschiede im Einschwingverhalten. Die Kernströmung scheint mit Kernstichen anfangs zwar weicher und diffuser, auf die Länge gesehen aber geschlossener und weitreichender zu sein (Abb. 18).

Visualisierung Gedeckt

Dieses Luftblatt der gedeckten Pfeife als Animationsfilm

 

Einschwing Gedeckt

Diesen Einschwingvorgang der gedeckten Pfeife als Animationsfilm

 

Fotos des Luftblattes einer Schwingungsperiode von der offen Pfeife ohne Bart und Kernstiche

Videofotos einer klingenden Orgelpfeife

Diese Fotos als Animationsfilm


LDA

Die Analyse der LDA-Messungen ergab, dass im Bereich des Kernstichs die Strömungsgeschwindigkeit deutlich niedriger und beruhigter war als im übrigen Bereich der Kernspalte. Auch die Transversalschwingungen waren niedriger. Dies sind Wellenbewegungen, die sich quer zur Bewegungsrichtung des Luftblattes ausbreiten und dieses stören.
Deutlich zu erkennen ist bei der gedeckten Pfeife ein zusätzliches Pulsieren des Luftblattes in Strömungsrichtung. Immer dann wenn der Luftstrom nach außen schwingt, strömt die Luft über eine längere Strecke mit hoher Geschwindigkeit aus der Kernspalte als in dem Moment, in dem das Blatt nach innen fließt (Abb. 19). In der Grafik erkennt man diesen Effekt an einer längeren roten Färbung des Luftblattes oberhalb der Kernspalte.

LDA-Grafik

Dieses Geschwindigkeitsprofil einer gedeckten Pfeife als animierte Grafik


Akustische Analyse

Die deutlichsten Änderungen durch das Anbringen von Kernstichen waren bei der akustischen Untersuchung zu sehen. Beim Klangspektrum fällt besonders stark die enorme Reduzierung des Hintergrundrauschens auf. Gleichzeitig werden aber auch die unharmonischen Eigenresonanzen des Pfeifenkörpers reduziert. Sie entstehen in jedem Rohr, wenn es durch ein Rauschen angeregt wird. Beim ersten Teilton sind Eigenresonanz und Grundton einer klingenden Pfeife noch identisch. Mit jedem weiteren Teilton verschieben sich die Teiltöne der Eigenresonanz um so mehr gegenüber den harmonischen, je weiter das Rohr ist. Im Klangspektrum sind sie als kleine Nebenspitzen zu erkennen. Sie sind auch dafür verantwortlich, dass weite Pfeifen nie so vokal und sonor klingen wie enge (Abb. 20).
Interessanterweise tritt eine Obertondämpfung durch die Kernstiche erst ab dem elften Teilton  auf. Die anderen werden durch die Stiche teilweise sogar verstärkt (Abb. 21 u. 23).
Die Analyse des Einschwingvorgangs in Form von Scheibendiagrammen zeigt einen gleichmäßigeren und ruhigeren Teiltonaufbau mit Kernstichen (Abb. 22). Bei genauer Betrachtung ist er, verglichen mit dem kernstichlosen Zustand, ganz leicht verzögert. Die Stärke der stationären Teiltöne ist mit Kernstichen jedoch deutlich gleichmäßiger (Abb. 24).

KLangspektrum BeispielKlang mit/ohne SticheKlang ohne Stiche

Subjektive Beurteilung

Die Messergebnisse stimmen mit der subjektiven Beurteilung überein. Der stationäre Ton klingt mit Kernstichen klarer, wärmer und sauberer als ohne. Die Ansprache ist nicht mehr so hart, und das Rauschen und Kratzen ist deutlich reduziert. Der Obertonaufbau scheint gleichmäßiger und vokaler. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass es sich hier um eine relativ große Pfeife mit weiter und gratfreier Kernspalte handelt. Bei aufgerauten und engeren Spalten oder stärkeren und zahlreicheren Stichen wäre die Reduktion von höheren Teiltönen deutlich stärker.


Persönliche Bemerkungen und Zusammenfassung

Die Bilder und die Beschäftigung mit der Physik der Pfeife haben meine Vorstellung davon neu geprägt. Sie lenken meine Gedanken in eine andere Richtung als vorher und haben daher indirekten Einfluss auf meine Arbeit. Dass die Luft im Bereich des Kernstichs langsamer und beruhigter strömt, dadurch das Luftblatt beruhigt und mit einer Art Rippen stabilisiert, ist für mich das wichtigste Ergebnis dieses Forschungsprojektes. Dadurch erklären sich einige Phänomene aus der Praxis. Dass z.B. nur große Stiche einen unruhigen Ton stabilisieren können, kommt meiner Meinung nach aus der Reduktion der Transversalschwingungen, die bei ihrer Bewegung quer zum Luftblatt immer wieder auf die beruhigten und stabilen Zonen der Kernstiche treffen. Damit wird ihre Intensität reduziert. Auch die Beobachtung, dass eine Pfeife mit Kernstichen wärmer und nicht unbedingt obertonärmer klingt, wird durch das Verschwinden der unharmonischen Eigenresonanzen und der Verstärkung einzelner Teiltöne bestätigt.
Der größte Erfolg dieses Forschungsprojektes wäre es jedoch, wenn viele Orgelbauer dadurch angeregt würden, sich offen über ihre Erfahrungen bei der Intonation auszutauschen und sie mit den wissenschaftlichen Ergebnissen zu vergleichen.

Reiner Janke
Intonateur

www.orgel-info.de


Bisher erschienene Veröffentlichungen zu diesem Thema

1. G. Paál, J. Angster, A. Miklós and W. Garen: Laseroptische Strömungsmessungen in Orgelpfeifen. 5. Fachtagung "Lasermethoden in der Strömungsmeßtechnik", TU Berlin 57.1-57.2 (1996)

2. G. Paál, J. Angster, W. Garen und A. Miklós : Geschwindigkeitsmessungen in tönenden Orgelpfeifen. Fortschritte der Akustik, DAGA 97, Kiel, Bad Honnef: DPG-GmbH, 313 - 314 (1997).

3. G. Paál, J. Angster, W. Garen und A. Miklós : Application of laser techniques to flows in flue organ pipes. Laser Anemometry, Advances and Applications. Proc. Of the 7th Int. Conf. Univ. Karlsruhe, Germany, 151-157  (1997)

4. G. Paál, J. Angster, W. Garen und A. Miklós: Sound and flow at the mouth of flue organ pipes. Part I. Fully developed state. Proceedings Institute of Acoustics, Vol. 19, Part 5, Book 2 (ISMA '97, Edinburgh), Institute of Acoustics, St Albans, UK, 295 -301 (1997)

5. G. Paál, J. Angster, W. Garen und A. Miklós: Sound and flow at the mouth of flue organ pipes. Part II. Transient state. Proceedings Institute of Acoustics, Vol. 19, Part 5, Book 2 (ISMA '97, Edinburgh), Institute of Acoustics, St Albans, UK, 333 - 338 (1997)

6. J. Angster, G. Paál, W. Garen und A. Miklós: Effect of voicing steps on the stationary spectrum and attack transient of a flue organ pipe. Proceedings Institute of Acoustics, Vol. 19, Part 5, Book 2 (ISMA '97, Edinburgh), Institute of Acoustics, St Albans, UK, 285 - 294 (1997)

7. Paál, G., Angster, J., Pitsch, S., Miklós, A., Janke, R.: Orgeln: Die Begegnung von Physik, Kunst und Handwerk. Videofilm. Filmstudio Fachhochschule Ostfriesland, Emden 1999

8.A. Miklós and J. Angster: Sound production of flue organ pipes. 137th Meeting of the Acoust. Soc. Amer and 2nd Convention of European Acoust. Assoc. Acustica united with Acta Acustica. Vol. 85. 1999, (12-13)

9. J. Angster and A. Miklós: Intensive training on acoustics of pipe organs  for organ builders and organists. Acustica united with Acta Acustica.  Vol. 85. 1999, (12-13)

Danksagung: Das Forschungsprojekt wurde vom Ministerium für Wissenschaft und Kultur in Niedersachsen finanziert.

 

 

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