Intonation, Reiner Janke

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Artikel aus ARS ORGANI 3/94

Neueste Forschungsergebnisse zum Orgelklang

von Reiner Janke, Freiburg

Im Fraunhofer-Institut für Bauphysik in Stuttgart (Vaihingen) fand unter der Leitung von Frau Dr. Judit Angster vom 20. bis 23. April 1994 ein Intensivkurs über die Akustik der Orgel statt. Nach einleitenden Worten durch Dipl. Gewerbelehrer Friedemann Frasch legten Prof. Dr.-Ing. Helmut Fuchs, Dipl. Ing. Eva Veres, Prof. Dr. András Miklós und die Leiterin des Kurses einem Kreis von 17 vorwiegend jüngeren Orgelbaumeistern und Orgelbauern Teile ihrer umfangreichen Forschungsergebnisse dar. Dabei ging es um Grundlagenforschung und experimentelle Messungen des Pfeifenklanges sowie Einblicke in die Erforschung der Raumakustik, der Schallabsorbierung und des Orgelwindsystems. Die ungarischen Physiker Dr. Judit Angster und ihr Mann Prof. Dr. András Miklós, die seit zwei Jahren als Gastwissenschaftler in Deutschland tätig sind, haben durch ihre hervorragende achtjährige Forschungsarbeit erstmals für viele Bereiche des Pfeifenklanges sehr exakte, gesicherte Grundlagen und Messergebnisse geliefert. Dadurch müssen einige Annahmen der Orgelliteratur, wie z.B. die Klangverschmelzung über die Kanzelle, revidiert werden, während Phänomene der Intonation eine wissenschaftliche Erklärung finden können.

Die ersten zwei Tage waren hauptsächlich der Theorie gewidmet. Viele Forschungsergebnisse, Videofilme, Computer-und Klangdemonstrationen dokumentierten das hohe Niveau der Referenten und Forschungsarbeiten. Sehr wichtig für das Verständnis des Pfeifentones war z.B. das schrittweise Herantasten an die Funktionsweise der Orgelpfeife. Ein wesentlicher Gesichtspunkt beim Einschwingvorgang der Pfeife ist der sogenannte Schneidenton. Er entsteht, wenn das Luftblatt auf das Oberlabium trifft. Dadurch wird die Luft im Pfeifenkörper zum Schwingen angeregt. Ist der Aufschnitt sehr hoch, so liegt der Schneidenton sehr nahe bei dem Grundton der Pfeife und bringt sie schneller zum Klingen. Wenn der Aufschnitt niedrig ist, verhält es sich umgekehrt. Aus diesem Grund sprechen hoch aufgeschnittene Gedackte viel schneller an als niedrig aufgeschnittene Streicher. Der Schneidenton kann sehr leicht hörbar gemacht werden, indem die Pfeife an der Mündung mit einem dicken Stück Steinwolle abgedeckt wird.

In den letzten beiden Tagen wurden zahlreiche Messungen an Labial-und Zungenpfeifen durchgeführt. Dazu stand eine kleine Schleiflade in der Mitte eines sogenannten schalltoten Raumes. Auf dieser Intonierlade konnten zahlreiche Pfeifen mit hochempfindlichen Messgeräten ohne störende Einflüsse analysiert werden. Ein von Prof. Dr. Miklós entwickeltes Computerprogramm ermöglicht es erstmals, die ersten neun Teiltöne einer Pfeife während des gesamten Ein-und Ausschwingvorgangs sichtbar zu machen und in einem Diagramm darzustellen. Bei der Analyse von gedeckten Pfeifen und Rohrflöten waren alle Teilnehmer überrascht, daß diese Pfeifen, entgegen der Lehrmeinug, auch alle geradzahligen Teiltöne ausbildeten. Lediglich der Oktavoberton (2. Teilton) war deutlich schwächer ausgebildet als bei offenen Flöten. Ein weiteres interessantes Experiment beschäftigte sich beispielsweise mit dem Einfluß von Kernstichen. Dazu wurde eine neue Pfeife mit relativ hohem Aufschnitt zunächst ohne Kernstiche intoniert. Später wurde die Pfeife dann mit neun leichten Kernstichen versehen. Die Klanganalyse zeigte, daß die Pfeife ohne Kernstiche viele unharmonische Obertöne entwickelte, während die Pfeife mit leichten Kernstichen fast keine unharmonischen Teiltöne aufbaute. Erstaunlicherweise waren bei dieser Pfeife die harmonischen hohen Obertöne viel stärker ausgebildet als bei der Pfeife ohne Kernstiche. Ein Teil der Erklärung für den geänderten Klangaufbau liegt in den unharmonischen Eigenresonanzen eines jeden Pfeifenkörpers. Es zeigte sich bei den praktischen Demonstrationen, daß jeder Pfeifenkörper unharmonische Eigenresonanzen hat. Wenn die Pfeife erklingt, entstehen aber vorwiegend harmonisch reine Teiltöne, weil sich aus physikalischen Gründen nur ganzzahlige Vielfache der stehenden Welle des Grundtones bilden können. Diese Eigenresonanzen werden von einem turbulenten Luftblatt ohne Kernstiche viel stärker angeregt als von einem durch Kernstiche beruhigten Luftblatt.

Am Nachmittag des letzten Tages waren Orgelbauer und Orgelinteressierte zu einem Vortrag über den Einfluß der Kanzelle auf den Pfeifenklang eingeladen. Dabei wurde unter den kritischen Augen der Orgelfachleute mit hochempfindlichen Messgeräten nachgewiesen, daß bei Labialpfeifen keinerlei Kopplung der Pfeifen über die Kanzelle stattfindet. Wenn Pfeifen klanglich verschmelzen oder sich gegenseitig anziehen, mitnehmen, verstärken oder abschwächen so geschieht dies ausschließlich durch die Schallwellen, die von jedem Ton ausgehen.

Für die nächsten Jahre sind ausführliche Veröffentlichungen zu diesem und anderen Themen in Acta Organologica vorgesehen.

In vielen kleineren Diskussionen und im offenen Fachaustausch der Kollegen zeigte sich immer wieder, daß die Wissenschaftler auf die vielen spezifischen Einzelfragen aus der Praxis der Orgelbauer noch keine befriedigenden Antworten geben konnten. Wer Patentrezepte und Tricks erwartete, mußte enttäuscht werden, denn dieser Kursus wollte uns Orgelbauern nur ein Grundverständnis der akustischen Phänomene vermitteln, und er sollte der Auftakt zu einer Verknüpfung von Forschung und Orgelbaupraxis sein.

Um die finanzielle Basis für weitere praxisorientierte Forschungsarbeiten sicherzustellen, ist anfang Juni in Stuttgart der Förderverein Orgelforschung (FOF) gegründet worden. Ziel dieses Vereins wird eine weitere Erforschung der Physik der Orgel sein, um einen intensiven Dialog zwischen Orgelbauern und Wissenschaftlern zu ermöglichen, Forschungsarbeiten zu veröffentlichen, Kurse und Fachvorträge abzuhalten und Meßverfahren für die Praxis anzubieten. Für diese Arbeit ist es nötig, daß ein Teil der Forschungsarbeiten von einer möglichst großen Mitgliederzahl getragen werden. Eine breite Unterstützung dieser Arbeit liegt sicher im Interesse aller an der Klanggestaltung einer Orgel Beteiligten. Dem Orgelbau bietet sich damit eine Chance, die musikalische Qualität der Musikinstrumente zu verbessern.

R.J.

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