Intonation, Reiner Janke

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„Kunst ist ein absolut notwendiger Bestandteil des Lebens"

Nikolaus Harnoncourt im Gespräch mit Max Nyffeler 2002

Wenn Sie in Ihrem Werdegang nochmals von vorne anfangen könnten, würden Sie alles nochmals gleich machen?

Schwer zu sagen. Viele Weichenstellungen in meinem Leben waren vom Zufall abhängig, und es ist fraglich, ob diese Zufälle wieder so eintreten würden. Zum Beispiel: Ich habe mich relativ spät ,ungefähr mit siebzehn Jahren, entschlossen, Musiker zu werden. Da hatte ich schon ein professionelles Marionettentheater, und mein Berufswunsch ging in Richtung Theater, Marionettentheater, Bühnenbild und Holzbildhauerei. Ich spielte natürlich schon Cello, hatte auch sehr gute Lehrer, fand es aber nicht unbedingt notwendig, das als Beruf zu machen. Dann, 1947, war ich krank, und da hörte ich im Radio eine Aufnahme von der siebten Sinfonie von Beethoven. Da fühlte ich: Ja, das ist mein Beruf. Wenn ich jetzt nicht krank gewesen wäre und diese Sinfonie nicht gehört hätte, wäre ich vielleicht einen ganz anderen Weg gegangen. – Dann gibt es noch eine zweite Weichenstellung im Jahr 1969, als ich schon siebzehn Jahre Orchestermusiker in Wien war. In einem Konzert musste ich zum x-ten Mal die g-moll-Sinfonie von Mozart spielen. Mit steigender Verärgerung. Ich verstand einfach nicht, warum wir sie gerade so immer wieder spielen mussten. Ich hatte die Partitur auf dem Pult und fand: wir spielen eigentlich gar nicht das Stück. Ich hatte auch sehr viel über diese Sinfonie gelesen, die für jeden Musiker, der Mozart liebt, selbstverständlich ein ganz wichtiges Stück ist. Das einfach als nettes, hübsches Abendstück zu spielen, ging mir total gegen den Strich. Und nach dieser Aufführung im April 1969 beschloss ich: Weg vom Orchester, so nie wieder diese Sinfonie! Ich diskutierte das mit meiner Frau. Wir hatten damals schon vier Kinder, und es gab überhaupt keine Pläne und kein Netz, das mich aufgefangen hätte. Doch wir sagten uns: Das muss sein, es wird schon irgendwie gehen. Das hat ganz bestimmt meinen Werdegang entscheidend beeinflusst.

Wie schätzen Sie Ihre Arbeit als Orchestercellist nachträglich ein?

Mit dem heutigen Bewusstsein würde ich sicher nicht mehr in ein Orchester gehen. Aber es würde mir etwas sehr Wichtiges fehlen. Ich war bei den Wiener Symphonikern. Karajan war damals der Chef, und alle bedeutenden Dirigenten aus der alten Generation gastierten bei uns. Wir spielten die meisten Uraufführungen in Wien; die Philharmoniker hätten das nie gemacht, und das Rundfunkorchester war damals nicht gut genug. Für mich war das eine sehr wichtige Zeit, um Erfahrungen zu sammeln und zu lernen. Aber es war letztlich eine Zufallsentscheidung, gerade in dieses Orchester zu gehen. Also, um auf Ihre erste Frage zurückzukommen: wenn ich jetzt noch einmal von vorne anfangen würde, hätte ich wahrscheinlich einen andern Beruf.

Sie haben damals im Orchester gelernt, wie man es nicht machen soll.

Ja, das vor allem.

In ihrem Leben und auch in Ihren Aufsätzen kommt von Anfang an immer wieder ein Moment der Verweigerung ins Spiel. In den sechziger Jahren wurde Verweigerung zu einer Art Lebensmaxime für viele junge Leute: Man akzeptierte nicht, was einem die Gesellschaft vorgab, sondern suchte nach eigenen, notwendigerweise oppositionellen Wegen. Waren Sie sich in den fünfziger Jahren schon bewusst, dass diese Haltung Teil einer gesamtgesellschaftlichen Strömung war oder bald sein würde?

Nein, überhaupt nicht. – Für einen Achtundsechziger bin ich zu alt.

Haben Sie sich strikt als Einzelner verstanden?

Ich glaube, das hat mit der Zeit zu tun. Ich bin ein echtes Kriegskind, 1929 geboren, und habe die Nazizeit wirklich hautnah erlebt. Mit zehn Jahren musste ich zur Kinderorganisation der Hitlerjugend gehen, und hätte ich mich geweigert, hätten sie mich geholt und mir die Haare geschoren. Da bin ich nicht gefragt worden, das war keine Frage der Entscheidung. Wir waren eine große Familie, fünf Buben und zwei Mädchen, mit einem sehr lebhaften und interessierten Vater. Bei jedem Mittagessen war die ganze Familie zusammen, und da wurde immer diskutiert. Von klein auf nahm ich immer die Gegenposition ein. Ich bin keiner, der zustimmt. Das kann ich erst dann, wenn ich auch die Gegenposition bedacht habe. Ich habe auch selbst gern Widerspruch – ich brauche jemanden, der meine Gedanken in Frage stellt. Wenn ich keinen Partner habe, gibt es notfalls auch eine heftige Diskussion mit mir selbst. Diese Art von Widerspruch war am Anfang sehr stark politisch bestimmt. Als neunjähriges Kind kaufte ich mir in einem Antiquariat ein Buch über Selbsterziehung (von Tihamér Toth). Ich wählte damals einen Leitspruch für mich, und der hieß: "Wenn alle: ich nicht". Das war mir damals wichtig. Wir wurden gedrillt, "jawohl!" zu sagen. Wenn sich ein Führer vor die Einheit stellte, musste die ganze Einheit "Jawohl" sagen. Ich war sehr stolz, wenn es mir gelungen war, es nicht zu sagen oder sogar etwas dagegen zu sagen. Dafür habe ich auch Schikanen in Kauf genommen. Dieses Anderer-Meinung-Sein, das Alles-Infragestellen, ist etwas, worunter ich manchmal auch ein wenig leide. Aber bis heute ist das eine Kerneigenschaft von mir. Wenn ich zum Beispiel etwas über Musik lese, dann ist meine erste Reaktion: "Das stimmt nicht."

Lesen Sie mit dem Bleistift?

Immer. Ich lese immer mit dem Bleistift. Auch ganz simple Sachen werden am Rand kommentiert, und zunächst bin ich eigentlich immer dagegen. Das geht bis zur Lächerlichkeit. Bei unserem Gespräch habe ich jetzt natürlich wieder Angst, dass ich als reiner Widerspruchsgeist ankomme, weil ich dieses Moment gerade so stark hervorgehoben habe. Zugleich muss ich aber sagen: Ich bin sehr glücklich, wenn ich irgendwo zustimmen kann. So ist es fast bei allen Fragen, die man mir stellt: Eigentlich müsste ich immer mit Ja und Nein antworten.

Die fünfziger Jahre waren eine Zeit des Neuanfangs in allen Künsten, man suchte nach einer Reinigung der vom Nazismus beschädigten Tradition. Ganz deutlich war das zum Beispiel bei der damaligen neuen Musik. Die Komponisten haben mit dieser Überzeugung in die Zukunft gearbeitet, während Sie aus dem gleichen Geist heraus die Vergangenheit erforscht haben und gefragt haben: Wie kann man die Tradition neu lesen?

Auch ich habe eigentlich geglaubt, in die Zukunft zu gehen. Ich hatte das Gefühl: Mit der Musik, überhaupt mit der ganzen Kunst der Vergangenheit kann man so wie bisher doch nicht mehr umgehen. Später habe ich das auch ein bisschen von außen beobachtet und festgestellt, dass die Veränderungen in der Aufnahme von Kunst ungeheuer stark etwas unterworfen sind, das man eigentlich nur als Mode bezeichnen kann.

In den Nachkriegsjahren?

Ich meine über die Jahrhunderte hinweg. Wenn Sie um 1500 ein Möbelstück gemacht bekommen, wird das ein kostbares Möbel sein. Es wird sehr viel Geld dafür aufgewendet, dieses kostbare Möbel zu besitzen. Hundert Jahre später ist dieses Möbel nichts wert, es wird auf den Dachboden gestellt, und nochmals fünfzig Jahre später kommt es vielleicht hinters Haus, es wird als Kohlebehälter benutzt und ist wirklich nur Gerümpel. Weitere fünfzig Jahre später wird es plötzlich wieder so kostbar, dass man ein ganzes Haus dafür bekommen könnte. Wie kann das möglich sein? Wieso wechselt unsere Sicht auf die Dinge so schnell, und wodurch wechselt sie? Das bezieht sich auf alles, nicht nur auf die Kunst. Wir werten ständig neu. Das habe ich bald erkannt, und alle meine Überlegungen sind von da an ein bisschen in diese Richtung gegangen. Wieso wollen wir zum Beispiel nicht auf die großen Kunstwerke der Antike und anderer Epochen verzichten? Sie werden nie alt, doch sie werden von Generation zu Generation immer wieder anders gelesen und verstanden.
Die alte Musik, wie ich sie in den vierziger, fünfziger Jahren kennen lernte, war eine Reaktion auf das, was man damals "romantischen Schwulst" nannte. Man sagte: Was sich am Ende des 19. Jahrhunderts abgespielt hat und noch weit ins 20. Jahrhundert hineinragt, ist nicht mehr echt und wird überwuchert von romantischem Schwulst. Heute bin ich ganz anderer Meinung. Ich denke, dass auch das wieder nur eine Reaktion war und nicht eine fundierte Position.

Und wie sah diese Reaktion damals aus?

Man versuchte alles zu "objektivieren". Die Musik Bachs, die auch im 19. Jahrhundert viel gespielt worden war, versuchte man nun, so neutral, so "objektiv" wie möglich wiederzugeben. Dafür prägte man den Begriff der Werktreue. Schon damals haben sich mir dabei alle Haare gesträubt. Einerseits war ich eher gegen den "romantischen Schwulst" eingestellt. Aufführungen etwa des Violinkonzerts von Tschaikowsky konnten mich als Teenager kränken; ich empfand diese Musik nicht mehr als "echt", von der Emotion her war sie mir zu zeitgebunden und zu fremd. Andererseits konnte ich nicht akzeptieren, dass Musik, die so stark an die Emotionen rührt, von all diesen Emotionen gereinigt werden, "objektiviert" werden sollte. Es gab zum Beispiel einen sogenannten "Bachstrich" für besonders trockene Spielweise, und Dynamik war überhaupt nicht erlaubt. Ich war zwar Teil dieser Strömung, opponierte aber zugleich dagegen.

Sie haben immer wieder betont, dass Musik für Sie ein Teil des Lebens ist – des Lebens ihrer Entstehungszeit, aber auch unserer Gegenwart.

Das ist sehr wichtig für mich. Das sehe ich so für alle Kunst. Ich glaube, dass die Schwelle zum Menschsein durch die Kunst bestimmt wird.

Könnten Sie das etwas ausführen?

In dieser Kürze geht das vielleicht am besten am Beispiel des Prometheus-Balletts von Beethoven. Es ist ein relativ frühes Werk von ihm, wirkt aber stark in sein späteres Schaffen hinein; er kommt immer wieder darauf zurück. Ich betrachte es als eine Art künstlerisches Glaubensbekenntnis von Beethoven. Das Konzept ist folgendes: Prometheus schafft zwei Tonfiguren. Er kann sie zwar beleben, aber es ist ihm unmöglich, ihre Liebe zu erlangen. Sie sind gefühllos, und Prometheus verzweifelt daran, dass sie ihn nicht als ihren Schöpfer lieben können. Doch dann – das ist nun wirklich etwas verkürzt – gibt es einen Moment, da sie durch die Berührung mit den Musen beseelt und liebend werden. In diesem Moment sieht er, dass das Menschen sind mit Leib und mit Seele. Und nun springe ich zu einer Aussage von Pascal, die mich sehr beeindruckt hat. Er sagt: Es gibt zwei Denkweisen, die "raison aritmétique", das arithmetische, rationale Denken – dazu zähle ich auch das römische Recht und die Logik – und es gibt die "raison du coeur", das Denken des Herzens. Und in dieser "raison du coeur" gibt es keine Logik, kein System von Ja und Nein. Hier kann man verschiedene Überlegungen sozusagen hypothetisch überspringen, und das Gefühl ist stets im Vordergrund. Die Sprache dieses Denkens ist die Kunst. Im darwinistischen System ist diese Sprache nicht erreichbar. Ich kann mir das Tier nicht vorstellen, das Sprache dazu verwendet, um zu sagen: "Über allen Gipfeln ist Ruh." Ein noch so weit entwickeltes Tier benützt alle seine Fähigkeiten zum Balzverhalten, um eine Nuss aufzuknacken oder um irgend etwas "Nützliches" zu erzielen.

Zur unmittelbaren Reproduktion des Lebens.

Ja. In eine andere Richtung kann es nicht denken. Ich meine, dass auch all die technischen Errungenschaften der heutigen Menschen in diesem Bereich liegen. Der Gorilla, der den kompliziertesten Computer erfindet und bedient, ist mir durchaus geläufig. Aber der Gorilla, der die g-moll-Sinfonie von Mozart schreibt oder nur ein Gedicht von Goethe oder von wem immer – den gibt es nicht. Dazwischen ist der Musenkuss. Das meinte ich, als ich von Beethovens Prometheus sprach. Es gibt hier etwas Transzendentales, das sich der Erklärung entzieht.

Im heutigen Kulturbegriff scheint dieser Aspekt eine zunehmend geringe Rolle zu spielen.

Ich fürchte, heute entwickelt sich unsere Welt so, dass man das nicht mehr versteht. Man richtet sich immer mehr nach dem Zweckhaften, das zum anderen, zum technischen Aspekt gehört. Wohlverstanden: Das zweckgerichtete Denken ist sehr wichtig und muss sein. Aber wenn es Ausschließlichkeit beansprucht, besteht die große Gefahr, dass wir zu Bestien werden. Denn die Logik kennt keine Moral. Deshalb bin ich der Meinung: Die Kunst ist ein absolut notwendiger Bestandteil unseres Lebens. Es muss neben dem logischen auch das phantastische Denken geben. Die Pädagogen kommen immer mehr darauf, dass die Menschen, die mit Kunst aufwachsen, auch im Zweckbereich viel besser denken können, weil sie einfach verschiedene Gehirnteile für viel mehr verschiedene Vorgänge benutzen können als andere Leute. Darauf dürfen wir nicht verzichten. Ich sehe die große Gefahr, dass diejenigen, die zuständig sind für Bildung und Ausbildung, also die Politiker, das Problem überhaupt nicht begreifen und daher leichtfertig auf die Förderung dieser menschlichen Eigenschaften verzichten. Aber wenn Traditionen abreißen, sind sie nicht mehr erneuerbar. Ich weiß nicht, wo das hinführt, aber ich beobachte diese Entwicklung mit pessimistischen Gefühlen.

Eine entscheidende Rolle in Ihrem Musikdenken spielen die Instrumente. Sie sind ein wesentlicher Ausgangspunkt für Ihre Überlegungen zu Klangbild und Artikulation. Hinter Ihrer handwerklich-praxisorientierten Haltung gegenüber dem Instrument sehe ich aber auch noch einen Rest von dem, was bei den Naturvölkern der Schamane betreibt: Nämlich so etwas wie eine Suche nach dem "Geist", der dem Instrument innewohnt und den man mit geeigneten Mitteln zum Sprechen bringen kann. Ich möchte in diesem Zusammenhang den Komponisten Bernd Alois Zimmermann zitieren. Er sagte, der Klang der Instrumente habe ihn stets außerordentlich fasziniert, weil das schwingende Material, ganz gleich welcher Bauart, zu einem so vollkommenen Ausdrucksmittel des Spielers werden könne. Und er fügte hinzu: "Gestatten Sie mir das naive Bekenntnis, dass ich darin immer wieder etwas Wunderbares sehe, weil es die Verwandlung eines Gegenstandes zum Instrument, die des Instruments zu dem des musikdenkenden Geistes bedeutet."

Richtig! Das ist für mich ein ganz wichtiger, aber zugleich auch gefährlicher Punkt. Denn das Instrument bleibt stets ein Instrument, ein Werkzeug. Und wenn wir das Instrument verabsolutieren – gerade in der alten Musik kann das manchmal passieren –, dann wird das Werkzeug wichtiger als die Musik. Dazu habe ich mit meiner Arbeit ungewollt vielleicht auch etwas beigetragen. Doch ich habe von Anfang an das Instrument immer als Instrument gesehen – wenn auch vielleicht mit dieser magischen Komponente, die Sie gerade genannt haben. Nun gibt es etwas, das mir bei sämtlichen Instrumenten auffällt, und das man auch auf andere technische Geräte übertragen kann. Versuchen wir uns einmal den Ursprung der Klangerzeugung zu vergegenwärtigen. Vielleicht hört man bei einem Bogen, mit dem man Pfeile schießt, einen Klang; man hat den Mund in der Nähe der Saite und die Resonanz des Mundraums verstärkt den Ton. Auch Hohlkörper wie Kürbisse, Muscheln oder Schildkrötenpanzer ergeben Klänge, wenn sie entsprechend mit schwingender Luft in Verbindung kommen. Das reizt den Erfindergeist des Menschen, und er will dieses "Instrument" verbessern. Doch ab einem gewissen Punkt, den man sehr genau erkennen kann, ist eine Verbesserung nicht mehr möglich; dann gibt es nur noch Veränderungen. Von da an muss ich immer auf etwas verzichten, wenn ich etwas verbessern will. Und es wäre ein großer Fehler, diese Veränderungen nur als Verbesserung zu bezeichnen; es ist immer ein Preis zu bezahlen, und die Frage heißt: Ist es das wert?

Ein Beispiel?

Sie haben eine Querflöte von 1500. Die ist auf ihre Art ein vollkommenes Instrument. Sie hat sieben Grifflöcher, das ist mit den beiden Händen gut zu bewältigen. Ihre Bohrung ist so, dass man mit dem Atem mühelos Melodien spielen kann; sie ist nicht so groß, dass man alle zwei Töne atmen muss. So entsteht ein Ton, den jeder musikalische Mensch als sehr schön bezeichnet. Auf dieser Flöte können Sie einfache Tonleitern spielen, weil sie ja nur sieben Löcher hat. Wenn ich nun aber Halbtöne zwischen diesen Tönen spielen will, muss ich Griffe verwenden, die die Einfachheit dieses Instruments durchbrechen. Ich kann nicht mehr klar sagen: Bei diesem Loch endet jetzt die Luftsäule, sondern ich nehme einen sogenannten Gabelgriff, und dann endet die Luftsäule unbestimmt. So entsteht ein Ton, der irgendwie schmutzig und auch etwas unbestimmt ist. Schmutz hat natürlich in jeder Kunst einen großen Reiz. Zwischen der Klarheit des Reinen ist die leichte Unklarheit des Schmutzigen eine interessante Sache. Aber nun möchte ich vielleicht auch andere Tonleitern so rein spielen wie die Grundtonleiter. Um die Schmutztöne der Gabelgriffe zu vermeiden, muss ich Löcher dorthin machen, wo die neuen Halbtöne wären. Ich muss auf irgend eine Weise diese Löcher schließen und öffnen, aber dort habe ich keine Finger. Also bringe ich dort Klappen an. Jetzt sind plötzlich alle spielbaren Töne gleich rein. Ich kann die Flöte auch lauter machen, indem ich sie aus Metall mache. Das kann man immer weiter treiben. Bei jeder einzelnen dieser Maßnahmen gewinne ich etwas – Lautstärke, klangliche Gleichmäßigkeit usw. – und ich verliere etwas: Buntheit der Klänge, Obertöne, den reizvollen Schmutz, die Verschiedenartigkeit der Töne. Und da stellt sich immer die Frage: Ist es das wert? Dem einen gefällt nun das eine besser und dem andern das andere. Das ist letztlich Geschmackssache. Nur: Gewinn und Verlust halten sich immer die Waage. Eine Verbesserung per saldo gibt es nicht.

Also auch keinen Fortschritt?

Diesen Fortschrittsglauben habe ich nie gehabt. Ich kann auch nicht finden, dass ein Bild von Rembrandt besser ist als eines von Van Eyck, oder dass eine Komposition von Mozart besser ist als eine von Josquin. Hier ist es genau dasselbe: Es wird auf etwas verzichtet und dafür etwas anderes gewonnen. Irgendwann kommt man zur Einsicht, dass praktisch jede Zeit ihr optimales Instrumentarium gehabt hat, und dass die Veränderungen, die sie an den Instrumenten vorgenommen hat, genau richtig waren für ihre Musik. Diese Veränderungen sind immer in einem Wechselspiel zwischen den Instrumentalisten, den Instrumentenbauern und den Komponisten entstanden. Die schöpferischen Musiker hatten immer ein großes Interesse an den Klängen, und ihre Entdeckerfreude ließ sie dann leicht übersehen, was mit diesen Veränderungen geopfert wurde.

Da stellt sich die Frage nach der Gegenwart: Welches sind denn die Instrumente, die unserer Zeit entsprechen?

Ich denke, das ist in erster Linie das moderne Klavier mit seiner zwölftönigen Stimmung und seinem glasigen Klang fast ohne Obertöne.

Das sich immer mehr in Richtung Keyboard mit unterschiedlicher elektronischer Ausrüstung entwickelt.

Ich möchte mich auf das herkömmliche Klavier mit Saiten beschränken. Da bringt man durch das Schlagen auf die Tasten die Saiten zum Schwingen, und dadurch entsteht der Ton. Von allen heutigen Instrumenten hat das Klavier die längste Entwicklungsgeschichte, wenn man vom Monochord, von der Saite, die man zum Klingen bringt, ausgeht. Beim Keyboard liegt die Verwandtschaft nurmehr in der Klaviatur, also in einer äußeren Eigenschaft. Die Tonerzeugung findet außerhalb meines verstehbaren physikalischen Bereichs statt. Da finde ich den Preis zu hoch, der Verlust erscheint mir höher als der Gewinn.

Bei welcher Musik liegt für Sie die Grenze beim Gebrauch alter Instrumente, ab wann benutzen Sie die Instrumente des heutigen Orchesters?

Ich bin da nicht so dogmatisch. Mit den Wiener Philharmonikern führe ich zum Beispiel die Matthäuspassion nicht mit historischen Instrumenten auf. Und das ist Bach.

Sie haben 1972 in Mailand ja auch Monteverdis "Ulisse" mit dem modernen Orchester dirigiert.

Ja, und ich habe sehr viele Sinfonien von Mozart mit verschiedenen Orchestern gespielt. Aber alle auch mit dem Concentus. Es gibt verschiedene Aspekte. Indem sich das Spielen auf historischen Instrumenten einbürgerte, wurde den Sinfonieorchestern ein großer Teil des Repertoires weggenommen. Das halte ich auch für einen Nachteil. Wenn ein Orchester keinen Mozart und keinen Bach spielt, dann spielt es auch Brahms und Stockhausen nicht so, wie es ihn spielen würde, wenn es die ganze Tradition im Blick hätte. Musiker sollten keine Spezialisten sein, sie sollten über ein breites stilistisches Spektrum verfügen. Auch beim Concentus lege ich Wert darauf, dass die Musiker nicht nur alte Musik machen. Der Horizont ist sonst allzu beschränkt. Neulich habe ich mit den Berliner Philharmonikern ein großes Oratorium von Händel gespielt. Sie hatten seit längerer Zeit keinen Händel mehr gespielt, und auch sehr wenig Bach. Es kostete viel Mühe, weil manche stilistische Kenntnisse neu erarbeitet werden mussten. Aber es wurde zu einem großen Erfolg, und allen wurde klar, wie wichtig diese Erfahrung war. Es gibt Werke, die würde ich nicht mit modernen Instrumenten spielen, zum Beispiel eine Canzone von Gabrieli oder "Orfeo" von Monteverdi; hier ist die ganze Instrumentation auf bestimmte Instrumente abgestimmt, die man nicht substituieren kann. Andererseits sind aber auch die sogenannt modernen Instrumente gar nicht so modern. In gewisser Weise sind sie auch schon mehrere Generationen alt.

Bei manchen Aufführungen, etwa mit dem Concertgebouw Orchester, haben Sie einzelne alte Instrumente in das moderne Sinfonieorchester integriert. Welches waren dabei Ihre Erfahrungen?

Beim Händel-Oratorium in Berlin setzte ich als Continuo-Instrumente Laute, Orgel und Cembalo ein. Mit dem Continuo mache ich das immer wieder, bei Bläsern in der Regel nur mit Blechbläsern. Bei Musik, die für Naturtrompeten geschrieben ist, sollte man stets versuchen, Naturtrompeten zu finden, weil sich moderne Trompeten dafür nicht eignen. Die müssen viel zu laut spielen, um denselben Effekt zu erzielen. Das stellt die Dynamik auf den Kopf. Auch bei den Hörnern kann man mit Naturhörnern sehr viel gewinnen. Nur muss man die Spieler dafür finden. Musiker von außerhalb in ein Orchester zu verpflanzen, finde ich nicht gut. Am besten ist es, wenn die Orchestermusiker selbst zu den historischen Instrumente greifen. Das war zum Beispiel beim Zürcher Opernorchester der Fall, als plötzlich die Trompeter und Hornisten von sich aus mit Naturinstrumenten kamen. Sie hatten das insgeheim geübt. Auch bei den Berliner Philharmonikern fragten mich die Posaunisten bei einem bestimmten Stück, ob sie nicht alte Posaunen nehmen sollten. Und bei Händel waren die Musiker an der Verwendung alter Trompeten interessiert. Leider fehlte die Probenzeit, um das entsprechend aufzubauen. Doch ich bin überzeugt: In einer Generation wird es in den großen Orchestern überall Musiker geben, die diese Instrumente spielen.

Riccardo Chailly sagte einmal, man könne Klangidentität eines Orchesters nur ganz begrenzt ändern, da sie ja an die Musiker gebunden sei. Allerdings könne man das Repertoire erweitern und damit die stilistische Flexibilität der Musiker entwickeln, und er nannte dabei ausdrücklich auch Ihre Arbeit mit dem Concertgebouw Orchester. Aber Sie arbeiten doch eigentlich an der Veränderung des Klangs. Wie lösen Sie dieses Problem der Klangidentität?

Das kann und soll man nicht lösen. Ich habe einen sehr großen Respekt vor der Klangidentität bestimmter Orchester, und dieser Respekt wird immer größer, je mehr sie zu schwinden droht. Das hat sehr viel zu tun mit der Herkunft der Musiker. Ein in Wien oder Prag oder Budapest ausgebildeter Geiger wird fast immer anders spielen als ein Geiger, der in Paris, New York oder Moskau ausgebildet wurde. Doch heute sind die Stellen in den führenden Orchestern zunehmend begehrt, und bei Vakanzen kommen die Musiker von überall her zum Vorspielen. Auch die Dirigenten reisen sehr viel, und wenn sie an einem Ort etwas in einer bestimmten Weise vom Orchester bekommen können, dann verlangen sie das vielleicht auch anderswo. Manchen ist nicht genügend bewusst, wie kostbar die Verschiedenheit ist. Die Nivellierung ist schon sehr weit fortgeschritten, und es besteht die Gefahr, dass von Japan über Amerika bis Russland alle Orchester bald einmal gleich klingen werden. Unter den europäischen Orchestern findet man die ausgeprägtesten Klangidentitäten etwa beim Concertgebouw Orchester, bei den Philharmonikern in Berlin und Wien und vielleicht noch bei der Dresdner Staatskapelle. Ich finde es sehr interessant, ein und dasselbe Stück mit verschiedenen Orchestern zu dirigieren, wobei ich völlig auf deren Identität eingehe. Stilistisch möchte ich keine Kompromisse machen. Aber die klangliche Identität des Orchesters sollte man nicht antasten.

Sie haben vor fünf Jahren einen Schritt zu einem neuen Repertoire gemacht, der viele erstaunt hat, die in Ihnen noch immer nur den Spezialisten für alte Musik, bestenfalls noch einen Dirigenten für Mozart und Schubert, gesehen haben. Sie haben damals Verdis „Aida" dirigiert, und 2001 haben sie das Werk nun auch auf CD aufgenommen. Warum haben Sie bei Verdi gerade mit diesem Werk angefangen?

Für mich gibt es drei totale Opernkomponisten: Monteverdi, Mozart und Verdi. Da ist praktisch jeder Ton ein Teil des Dramas. Die ganze Palette des Musikdramatischen ist auskomponiert, bis zur Gestik und zum Subtext. Nachdem ich alle Opern von Monteverdi und Mozart dirigiert hatte, wollte ich unbedingt etwas von Verdi machen. Aber ich hatte lange das Gefühl, nicht genügend italienische Großmütter und also nicht wirklich italienisches Blut zu haben. Ich habe viel mit italienischen Sängern gearbeitet, und die haben mich immer wieder aufgefordert: Mach doch endlich einen Verdi, wir wollen das Requiem mit dir singen. Das habe ich übrigens inzwischen gemacht. So begann ich schließlich selbst an meine Verdi-Kompetenz zu glauben. Ich wollte eines der späteren Werke machen und eines, das mir besonders missverstanden schien, und da bot sich "Aida" an. Kein Mensch hätte sich gewundert, wenn ich "Falstaff" gemacht hätte. Da geht Verdi in seinem letzten Aufflackern noch einmal ganz in die Operngeschichte zurück. Aber das wäre mir zu evident gewesen. Vielleicht kommt das ja noch.

Inwiefern ist Ihre Deutung der "Aida" anders?

Ich glaube, man kann nicht von einer neuen Deutung sprechen. Ich befolge bloß Verdis Vorschriften genauer. Dass man auf Grund einer Szene von zehn Minuten dieses Werk so aufbauscht, dass man diese Hymne, die fälschlicherweise noch Triumphmarsch genannt wird, zum klanglichen Rückgrat des ganzen Werks macht und praktisch alles andere auf dieses Niveau hinaufzüchtet: das finde ich ein gewaltiges Missverständnis. Wie kaum ein anderer Komponist hat Verdi sehr genau beschrieben, wie er sich das Werk vorstellt. Er hat beschrieben, wie er die Sänger haben will, wie er das Orchester haben will. Die Flötisten mussten ihm vorspielen, und er überlegte, ob er Altflöte nehmen soll, usw. Wenn man sich dafür interessiert, kann man bei Verdi besser als bei irgend einem andern Komponisten in Erfahrung bringen, was er wirklich wollte. Ich weiß auch keinen Komponisten, der eine so genaue Vorstellung von der Dynamik hat. Er baut sie immer von den leisen Registern her auf! "Aida" ist geradezu ein Kammermusikstück. Da spielen oft nur zwei Geigen; beim Requiem verlangt Verdi manchmal nur vier Sänger im Chor. Normalerweise singen aber dreißig – warum, weiß ich nicht. Und es spielen ganze Orchestergruppen an Stellen, wo es nur zwei, drei Spieler sein sollen. Oder: Verdi schreibt bei einer Stimme ein vierfaches Piano, und der Sänger singt dann mit doppeltem Forte.

Wie waren die Reaktionen auf Ihre Interpretation?

Die waren sehr interessant. Einige der professionellen Hörer und ausgewiesenen Stimmenkenner haben mir vorgeworfen, ich hätte alles nur mit elektrischer Verstärkung machen können, weil es mit der Besetzung, die ich hatte, gar nicht möglich gewesen wäre, ein so groß instrumentiertes, lautes Stück adäquat wiederzugeben. Wären sie bei der Aufnahme im Saal dabei gewesen, hätten sie bemerken können, dass ich die Sänger immer bat, noch leiser zu singen. Niemand musste laut singen, um gegen das Orchester anzukommen. Sie hätten im Saal alles genau so hören können, wie es dann bei der Aufnahme herauskam.

Wo haben Sie die Aufnahme gemacht?

Im Musikvereinssaal in Wien. Das ist ein hervorragender Saal. Was dort gut klingt, kommt auch in der Aufnahme gut.

Warum gibt es diese Tendenz zum lauten Singen?

Die Sänger haben Angst vor einem zu lauten Orchester, und das Orchester hat Angst vor zu lauten Sängern, und so schaukelt sich das hoch. Die Sänger singen heute viel lauter als vor hundert Jahren. Man erkennt das am Repertoire. Wenn eine Sängerin, die die großen Partien von Wagner und Verdi gesungen hat, am Ende ihrer Karriere damals noch die Konstanze von Mozart singen konnte, dann konnte sie diese Wagner- und Verdi-Partien nicht so gebrüllt haben, wie sie heute meist gebrüllt werden. Weder Sänger noch Orchester waren früher so laut. Das heißt, man hat auf eine Kultur des Leisespielens geachtet. Die Werke wurden aus der Stille heraus entwickelt, und der Referenzpegel war nicht das Forte.

Bei „Aida", wo die tragische Liebensgeschichte im Stil der Grand Opéra mit einer Staatsaktion konfrontiert wird, besteht natürlich besonders die Gefahr, dass der Klang zu groß dimensioniert wird.

Ja, aber diese Staatsaktion ist nur wenige Minuten lang! Wenn man dagegen bedenkt, wie leise das Stück anfängt und endet! Oder die subtilen Naturschilderungen des Nil-Aktes! Für mich war das eine sehr interessante Sache. Anschließend habe ich das Parallelstück, das Requiem, einstudiert. Das eine Werk, die "Aida", behandelt die Schrecken der Religion, wenn der Fundamentalismus überhand nimmt, während im Requiem die tiefe Religiosität Verdis stark und unverstellt zur Darstellung kommt.

Ende des Interviews mit Nikolaus Harnoncourt